von Franz Billmayer/Hermann Sottong

Dieser Text verdankt sein Zustandekommen dem Beitrag von Franz Josef Röll „Strahl und Rauch“ in den BDK-Mitteilungen 3/2001 und wurde veröffentlicht in BDK-Mitteilungen 4/2001, S. 26 – 30

Mehrdeutig

Bilder sind interpretierbar. Bildbotschaften sind mehrdeutig; d.h. es lassen sich prinzipiell mehrere Interpretationen – Deutungen – aus ein und dem selben Bild gewinnen, sofern es nur als solches vorliegt; denn Bilder und ihre Elemente sind häufig in ihrer Bedeutung nicht durch Konventionen genau festgelegt. Für den einen steigt eine schräge Linie an, für den anderen fällt sie ab. Mehrdeutigkeit muss aber nicht heißen, dass man alles herauslesen kann, bzw. dass es nicht Deutungen gibt, die eher einleuchten, als andere. Bilderinterpretieren ist mehr als Kaffeesatzlesen oder Rorschachtests ausfüllen. Weil die Deutungsbreite bei Bildern extrem groß sein kann – siehe die ansteigende oder abfallende Linie – ist es schwierig, mit ihnen losgelöst von Kontexten zu kommunizieren. Deshalb gibt man Bildern in Kommunikationszusammenhängen Texte als Deutungshilfen mit; die Bildunterschrift in der Zeitung, die Predigt in der Kirche, die Texte und Kontexte in der Werbung … Gerade weil Bilder als solche in der Regel nicht-zeichenhaft sind und dementsprechend unterschiedlich gedeutet werden, verlässt sich Werbung nie auf das bloße Bild. Statt dessen konstruiert sie durch die Kombinatorik von Abbildungen, Symbolen und Texten komplexe Äußerungen, in denen semantisch kodiertes Material die Deutung lenkt, die Mehrdeutigkeit beschränkt und so durchaus intersubjektiv verstehbare Botschaften generiert werden können.

Imagery

Werbung mit Bildern, Bildkommunikation allgemein, versucht das Produkt, bzw. die Botschaft im Gedächtnis des Konsumenten zu verankern, so dass dieser beim nächsten Einkauf das entsprechende Produkt wählt. Für Werner Kroeber-Riel geht es in der Bildkommunikation darum, beim Konsumenten ein (inneres) Bild zu erzeugen, das dieser mit dem Produkt bzw. mit der Botschaft verbindet. Dieses innere Bild ist nicht ein bestimmtes Bild, sondern eine Art Bildtyp bzw. ein semiotischer Bildraum, der sich aus einer Vielzahl einzelner Bilder formt. Für Kroeber-Riel sind das Monument-Valley mit seinen Marlboro-Cowboys oder der Weg, den die Raiffeisen- und Volksbanken frei machen, gelungene Beispiele.

Aufmerksamkeit

Werbung buhlt um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Die Qualität der Aufmerksamkeit lässt sich in Abhängigkeit von Zeit und Konzentration des Rezipienten bestimmen. Weil Zeit sich nicht beliebig vermehren lässt, ist Aufmerksamkeit knapp. Aufmerksamkeit beschreibt die Qualität der Wahrnehmung. Neue Reize erregen unsere Aufmerksamkeit. Wenn Reize sich dauernd wiederholen, sinken sie unter die Wahrnehmungsschwelle; wir kennen das von Gerüchen oder monotonen Geräuschen. So steht die Werbung vor einem Dilemma: zum einen soll sie ein festes inneres Bild im Gedächtnis erzeugen, zum anderen muss sie dauernd neue Reize bieten, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Die Zigarettenmarken MARLBORO und Lucky Strike oder Raiffeisen- und Volksbanken zeigen in ihren Werbekampagnen seit Jahren, wie sich dieses Dilemma erfolgreich lösen lässt. Sie variieren ihr Thema jeweils innerhalb eines relativ engen ästhetischen „Bildschemas“, so dass sich im Laufe der Zeit eine feste innere „Bildlandschaft“ zum jeweiligen Produkt ausgebildet hat, in die wir auch die „neuen“ Bilder einer Kampagne sofort einordnen können.

Das Leben von Verkehrsteilnehmern hängt davon ab, wie aufmerksam sie den Verkehr beobachten. Darum haben sie nur einen kurzen Blick übrig für die Bilder und Texte auf den Plakatwänden. Das ist schlecht für die Werbewirtschaft. Aber Kleinvieh macht auch Mist: viele kurze Blicke ergeben in der Summe auch eine lange Zeit, viele kurze Momente der Aufmerksamkeit können auch wirken. Das ist gut für die Werbewirtschaft. Damit die Passanten immer wieder diese kurzen Blicke wagen, müssen sie die Bilder sehen wollen, neugierig sein. Bilder, die schnell verstanden werden, haben die Neugierde schnell befriedigt, sie werden in der Regel keine weiteren Blicke und damit auch keine vermehrte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. (Außerdem: Es gibt fast nie reine Großplakatkampagnen. Die Schaltung erfolgt parallel: Großplakat + Leuchtkasten + Anzeige …)

Verständnis

Dennoch wird der wesentliche Teil einer Werbebotschaft schnell verstanden. Wir wissen immer schon, dass das, was auf Plakatwänden klebt, sagt: Kauf mich, wähl mich. Das muss aber nicht heißen, dass wir das Bild oder den Text der Werbung schon verstanden haben müssen. Werbebilder müssen nicht unbedingt schnell verstanden werden, nur weil der Rezipient sich nicht viel Zeit nimmt.

Produkte als Botschaften

Produkte sind immer auch Zeichen für den sozialen Ort, die Lebenseinstellung, die Wertvorstellungen &c. dessen, der das Produkt verwendet bzw. sich mit ihm umgibt. Als Teile ästhetischer Modelle dienen Produkte dazu, Lebensstile zu realisieren und soziale Unterscheidungen zu kommunizieren. Diese Bedeutungen sind keine Wesensmerkmale der Produkte, sie werden ihnen vielmehr zugeschrieben. Werbung erzeugt bzw. unterstützt derartige Zuschreibungen; es ist eines ihrer Ziele, Produkte mit entsprechenden Bedeutungen in Verbindung zu bringen. Die Schwierigkeit liegt dabei darin, möglichst viele potentielle Kunden unter der jeweiligen Bedeutung unterzubringen…

 

Kirchenfenster

Kirchenfester. West-Zigarettenwerbung 2000 oder 2001

Das Bild – auf den Text gehe ich später ein – ist von einem farbigen Kirchenfenster ausgefüllt, es zeigt einen Kircheninnenraum. Im Zentrum des Kirchenfensters – nicht zentralperspektivisch – ist eine Westzigarettenschachtel abgebildet, und zwar so, dass man sie für einen Teil des Fensters hält. Das Ornament auf dem unteren, roten Teil der Schachtel ähnelt denen in den Fenstern rechts und links, allerdings ist der Maßstab ein anderer. Unterhalb des Schriftzuges West®, genau zwischen e und s, treffen zwei Lichtstrahlen aufeinander oder strahlen von dort aus nach unten. Es könnten Scheinwerfer sein, die rechts und links unten außerhalb des Bildes im Kirchenraum positioniert sind, es könnten Lichtstrahlen sein, die durch das „Westfenster“ fallen oder Strahlen, die von der „Erscheinung“ der Zigarettenschachtel ausgehen; die dritte Möglichkeit ist am einleuchtendsten: ein Fenster strahlt man nicht an, Sonnenstrahlen müssten parallel hereinfallen. Licht steht in der christlichen Kultur nicht für Erkenntnis und Erleuchtung allgemein, sondern vor allem für das unschaubare Göttliche und Heilige, für die Erleuchtung der Seele und so für die Erkenntnis der Wahrheit, des wahren Gottes.

Kreuz

Beim besten Willen kann ich die nur „virtuell gezeigte“(!) „senkrechte Linie des christlichen Kreuzes“ nicht konstruieren. Zwar treffen sich die Strahlen in der Mitte des Wortes West bzw. gehen von dort aus, aber dieser Punkt ist soweit nach rechts aus der optischen Mitte verschoben, dass die ikonografisch für das Kreuz geforderte Symmetrie nicht gegeben ist.

Die Subtext-Botschaft des Bildes lautet nach Franz Josef Röll: „wer West raucht gehört zu einer religiösen Gemeinschaft und hat gute Aussichten erleuchtet zu werden.“ Nur von dieser Annahme her kann ich verstehen, dass er das christliche Kreuz und sei es nur virtuell finden muss; und nur so kann es zu seiner Wahrnehmung des Logos auf der Schachtel kommen. Auf dem Logo erkennt er „eine Person (!) mit der Adorantenhaltung, der Anbeterhaltung des Göttlichen“; er übersieht den Rahmen und die zweite Figur. Dass diese Haltung auch etwas anderes bedeuten kann, wird sich weiter unten noch zeigen.

Ebenso übergeht er von den drei Texten zwei. Er nennt nur „Da strahlt die Gemeinde.“ geht aber nicht näher darauf ein. Unseres Erachtens liegt aber gerade in den Texten der Schlüssel für die Botschaft des Bildes.

Marktschreier

In dem Bild „Kirchenfenster“ treffen zwei semiotische Systeme oder vielleicht besser Sphären aufeinander. Religion und Genuss, religiöse Verkündigung und Werbebotschaft, Kirchenraum als Haus Gottes und Kommerz. – Hat nicht Jesus die Händler handgreiflich aus dem Tempel hinausgeworfen. – Das Kirchenfenster, das der Verkündigung der Wahrheit und des Heiles dienen sollte und damit strukturell durchaus mit einer Plakatwand verwandt ist, ist zu einer riesigen kommerziellen Werbefläche geworden. Geworben wird für Zigaretten, deren Genuss als Laster gilt. Der einzige in Kirchen zugelassene Rauch ist der Weihrauch. Wenn man eine Hierarchie von Räumen und Gelegenheiten auflisten würde, in denen bzw. bei denen Zigaretten eine Rolle spielen, so würden Kircheninnenräume und christliche Gottesdienste ganz am Ende bzw. überhaupt nicht auftauchen. Genauso sind Kirchenfenster tabu für kommerzielle Werbung. Und Äußerungen bzw. Verkünd(ig)ungen wie: „19 Stück fünf Mark“ sind in einem Kirchenraum ein schwerer Regelverstoß, wo doch das Himmelreich nicht zu kaufen ist und eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel kommt. Die Feststellung „Da strahlt die Gemeinde.“ verbindet die beiden Sphären Religion und Kommerz. Man weiß nicht recht: freut sich die Gemeinde, weil die Zigaretten so billig sind oder weil sie Zeuge einer religiösen Erscheinung und Erleuchtung ist.

Gegensätze

Die Energie, aus der sich das Bild speist und die die Aufmerksamkeit der Betrachter erregen soll, ergibt sich aus dem Zusammentreffen von verschiedenen semantischen Sphären:

  • Religiöse Verkündigung – Werbung (werbliche Verkündigung)
  • Jenseits/transzendent – Diesseits/transparent
  • Über-sinnlich – sinnlich
  • Heilig – profan
  • Nicht-warenförmig – warenförmig (zugänglich, real, wohlfeil)
  • Religion (Tugend) – Genuss (Laster)
  • Sakralraum (Nicht-Zigaretten) – Säkularraum (Zigaretten)

Diese Sphären sind nicht nur verschieden, sondern kulturell eindeutig oppositionell. Die Grenze zwischen diesen Sphären wird aber von dem Bild als grundsätzlich überschreitbar dargestellt: WEST erscheint genau an der Grenze (Kirchenfenster!) und strahlt in den Sakralraum hinein. Diese Grenzüberschreitung löst dabei keine negative, sondern eine positive Reaktion aus: „Da strahlt die Gemeinde.“ (Wobei „Gemeinde“ durchaus zweideutig sein kann: Entweder kann damit die Kirchengemeinde oder die Gemeinde der WEST-Raucher gemeint sein. In beiden Fällen ist aber klar, dass es sich um die Genugtuung über die Grenzüberschreitung „WEST – jetzt auch in der Kirche“ handelt.). Die „Erleuchtung“ besteht darin, zu realisieren, dass etwas, das sich kulturell auszuschließen schien, sich in Wirklichkeit gar nicht ausschließt! Was das Bild behauptet, ist schlicht, dass zwischen den beiden oppositionellen Sphären in Wirklichkeit gar kein Widerspruch besteht. Und auch diese Behauptung enthält eine Zweideutigkeit: Entweder ist zwar Religion weiterhin relevant, aber nach der „Erscheinung“ von WEST steht fest, dass WEST-Rauchen im System dieser Religion nunmehr zu den Nicht-Lastern zählt, oder Religion wird grundsätzlich umsemantisiert als ein System der Verehrung von irgendetwas (beispielsweise auch WEST), in dem alle fundamentalen Oppositionen wie sakral/profan, göttlich/menschlich etc. irrelevant geworden sind. Religion wäre dann reduziert auf ein ästhetisches Modell, eine semiotisch-ästhetische Praxis, die gleichberechtigt unter anderen wählbar ist. Wer dies weiß, wer solcherart erleuchtet ist, braucht sich über keine Grenzüberschreitung mehr zu erregen. WEST-Raucher können solcherart lässig-tolerant sein, weil sie von der ästhetisch-semiotischen „Andersartigkeit“ anderer nicht auf eine fundamentale, wesentlich oppositionelle Differenz schließen, sondern unterschiedliche ästhetische Äußerungsformen als postmodernes Spiel mit Formen erkennen und begrüßen. (Genau dies führt WEST auf den Anzeigen und Plakaten vor: ob Elvis-Imitator, Domina-Verschnitt, Cavewoman etc.: jeder kann alles „sein“, es gibt zwischen den äußerlich unterschiedlichsten Typen eigentlich keine fundamentale Differenz, jeder kann alles mal probieren: TEST IT).
hier eine kleine, feine Sammlung: https://www.pinterest.de/jmuse99/test-the-west/

und zur Sicherheit hier noch eine kleine Auswahl

Beichtstuhl:

Die Bilder der Westwerbung lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen:

  1. Eine Westzigarettenschachtel erscheint im falschen Maßstab als Collage o.ä. in einem „fremden“ Objektzusammenhang (Kirchenfenster)
  2. Zwei Personen aus unterschiedlichen sozialen Milieus treffen aufeinander und halten jeweils eine Zigarette in der Hand. Die „milieufremde“ Person hält dabei oft eine Zigarettenschachtel in der Hand, die andere Person – zumindest in den von mir geprüften Beispielen – nie.

Das Beichtstuhlbeispiel gehört zur zweiten Kategorie.

Zigaretten – Mann und Frau

Auf dem Bild ist formatfüllend ein Beichtstuhl abgebildet. Die drei Teile des Beichtstuhls, der Platz des Beichtvaters und die beiden Bänke für die Beichtkinder, unterstreichen die drei Protagonisten der Werbebotschaft:

  • links die Westzigarettenschachtel auf einer eigenen vorgelagerten Bildebene
  • in der Mitte der Beichtvater
  • rechts eine junge Frau

Wie beim „Kirchenfenster“ treffen auch hier zwei verschiedene semantischen Räume aufeinander, zwei Welten mit unterschiedlichen Werten, unterschiedlichen Codes und unterschiedlichen ästhetischen Modellen. Diese Konfrontation wird im Schema „Boy meets Girl“ erzählt.

Ein großväterlicher Mann im traditionellen Gewand eines katholischen Priesters sitzt als Beichtvater in einem Beichtstuhl. Rechts von ihm sitzt eine junge Frau im Beichtstuhl, sie trägt ein rotes hochgeschlitztes Kleid, vom linken Oberschenkel ist relativ viel zu sehen. Wir haben das traditionelle Rollenbild vor uns, junge Frau – älterer Mann, der Mann in der Mitte mit Macht. Obwohl beide durch das Beichtgitter getrennt sind, ist ihre Haltung so, als ob sie sich in die Augen schauen würden. Sie lachen, als wären sie in ein persönliches Gespräch verstrickt.

Hände

Die Frau hält in der linken, der Mann in der rechten Hand jeweils eine Zigarette, die angebrannt ist, aber nicht raucht. Der Priester hält in der linken Hand ein schwarzes Gebetbuch und einen Rosenkranz, die Frau in ihrer rechten eine WESTzigarettenschachtel. Die Anordnung der vier Hände ist punktsymmetrisch, der Beichtvater hält seine Zigarettenhand und die Zigarette vorsichtig nach oben, die Frau nach unten, ihre Zigarette zeigt lässig nach unten. Entsprechend ist die Hand mit Gebetbuch und Rosenkranz unten, die mit der Zigarettenpackung oben. Über die Zigaretten sind die beiden Protagonisten verbunden. Rosenkranz und Gebetbuch einerseits und Zigarettenschachtel andererseits werden wie „klassische“ Attribute verwendet: Lebensgefühl und Weltverständnis des Priesters zeigen sich im Rosenkranz und im Gebetbuch, das der Frau in den Zigaretten…, hier manifestieren sich die beiden Welten, deren Grenze die Zigaretten aufheben.

Der Raum und seine Regeln

Durch den Beichtstuhl ist der Raum eindeutig als Kirchenraum, als Raum des Priesters definiert; d.h. er ist Hausherr und es sollten seine Regeln gelten. Der Beichtstuhl ist für den katholischen Priester, der als solcher dem Zölibat unterliegt, wohl noch typischer als etwa der Altar. Der Priester und die junge Frau rauchen nicht irgendwo, sondern im Beichtstuhl, in dem die Sünden vergeben werden. Er ist ein räumlich semantischer Extrempunkt zum Genuss des Rauchens, dem man z.B. in einer (verrauchten) Bar frönt.

Die junge Raucherin ist in diesen Raum eingedrungen und hat seine Ordnung gehörig gestört.

Beichtstühle sind durch Vorhänge vom Kirchenraum abgetrennt, was in der Beichte gesagt wird unterliegt einer strengen Schweigepflicht. Die Beichte ist nur für das Ohr des Beichtvaters bestimmt, sie wird geflüstert. Hier sind die Vorhänge beiseite geschoben und Beichtvater und Beichtkind hell erleuchtet und exponiert. Das Beichtgitter, das den Sünder vom Priester trennt, ist durch das intensive Licht, das aus dem Raum des Priesters strahlt, transparent geworden.

Anstatt demutsvoll zu knien, sitzt die Frau, anstatt den Blick schuldbewusst zu senken, blickt sie dem Priester offen und lachend in die Augen, anstatt ihre Sünden gegen das sechste Gebot zu bekennen, reizt sie den Betrachter mit ihrem roten geschlitzten Kleid, anstatt Vergebung und Buße aus dem Mund des Priesters entgegenzunehmen, hat sie diesem eine Zigarette gegeben und damit die Machtverhältnisse umgekehrt. Wie Eva Adam hat sie den Beichtvater zur Zigarette verführt und sein Verhalten verändert, er schaut nicht ernst und verständig, sondern amüsiert auf die attraktive junge Frau. Und er raucht! In diesem Beichtstuhl gelten die Regeln der Kirche und Religion nicht mehr, sondern die des Rauchens und des Genusses.

Die dritte Protagonistin, die West-Zigarettenschachtel steht etwas bescheiden am rechten Bildrand, sie hat die hierarchische Ordnung zwischen Beichtvater und Beichtkind aufgehoben. Ihr Raum ist ein wenig kleiner als der der anderen, aber er ist durch ein Kirchenfenster mit Sonnen, Blumen und Sternen „gekrönt“…

Grenzüberschreitung

Als Betrachter fragen wir uns, wie es zu dieser außerordentlichen Konstellation gekommen ist, wie die Zigaretten im Beichtstuhl gelandet sind, wie der Priester durch das Beichtgitter die Zigarette bekommen hat und wie es nach der Zigarette weitergehen wird. Die Szene ist der Höhepunkt einer Erzählsequenz.

Geschichten erzählen Ereignisse. „Ein Ereignis liegt … immer genau dann vor, wenn es in einem Text einer Figur gelingt die an sich unüberwindliche Grenze zu überschreiten.“ Diese Theorie geht auf J.M. Lotman zurück. Wir kennen das aus Western, wenn Cowboys in die Stadt kommen und dort alles durcheinanderbringen, oder wenn Hänsel und Gretel in den Wald gehen müssen… Karl N. Renner hat diese Theorie weiterentwickelt. Eine Geschichte kommt, etwas verkürzt gesagt, dann in Gang, wenn eine Person eine geografische Grenze überschreitet, in ein System eindringt und die dort herrschende Ordnung außer Kraft setzt bzw. in Frage stellt. Die anschließende Geschichte handelt dann davon, wie mit dieser Störung der Ordnung umgegangen wird. Im klassischen Hollywood-Film etwa, aber auch im Märchen, wird entweder die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt oder das System übernimmt die (neue) Ordnung, die der Störenfried vertritt; der erste Fall wurde schon erwähnt: eine friedliche Stadt wird von Banditen drangsaliert, die Geschichte ist zu Ende, wenn der Held die Gangster unschädlich gemacht hat; im anderen Fall haben wir eine korrupte Stadt und den Helden, die Geschichte ist zu Ende, wenn die Stadt die „Ordnung des Helden“ angenommen hat. In unserem Beispiel hat die Raucherin die Ordnung des Kirchenraums und des Beichtstuhls in ihrem Sinne verändert.

Boy meets girl

Am Ende beinahe aller Hollywood-Filme bekommt der Held (s)eine Frau. Damit er sie bekommen kann, muss er sie am Anfang der Filmhandlung kennen lernen. Je verschiedener Herkunft und Weltverständnis dieses Paares ist, je ungewöhnlicher die Situation, in der sie sich begegnen, desto größer sind die Möglichkeiten, die Handlung spannend entlang der Frage zu entwickeln, wie sie sich kriegen werden. Die Kluft zwischen einer jungen Frau und einem alten, zum Zölibat verpflichteten katholischen Priester könnte größer nicht sein… Wir fragen uns, wie ist es soweit gekommen, dass sich die beiden im Beichtstuhl so amüsiert unterhalten und in der Kirche rauchen, worüber reden und lachen sie, wie stehen sie zueinander. Vor allem wollen wir wissen, wie das Ganze weitergehen wird. Werden sie sich am Ende kriegen oder nur die eine Zigarette miteinander rauchen?

Interessanterweise ist auch diese Werbung durch das Merkmal „Offenheit“ gekennzeichnet: Es sind eine Reihe von Varianten denkbar. Ein Priester, der mit einer Schönen im Beichtstuhl raucht, sich zum Rauchen an diesem sakralen Ort womöglich verführen ließ, kann auch noch ganz andere Normen verletzen. Womöglich haben die beiden dies bereits getan, und die WEST stellt sich als die „Zigarette danach“ heraus. In diesem Extremfall wäre wiederum das zitierte System „Katholizismus“ in seinen fundamentalen Werten und Normen aus der Perspektive der Figuren wie der Werbung insgesamt irrelevant gesetzt; denn die Figuren zeigen keinerlei Anflug von schlechtem Gewissen und das Bild schildert das Ganze als heiter-harmlose Szene. Ebenso gut könnte aber auch gelten, dass hier Katholizismus und sakraler Raum nur in einem Punkt umsemantisiert werden, alle weiteren Implikationen aber beibehalten und im Hinblick auf eine bestimmte, positive Haltung gegenüber dem Rauchen funktionalisiert werden. Dann kann die Geschichte wie folgt gelesen werden: Die Beichte ist, siehe weiter oben, ein extrem intimer Vorgang. In unserem Werbebild dezidiert zwischen einem Mann (Priester) und einer Frau (Beichtende). Und nach einem intimen Zusammensein (in diesem Falle eben der Beichte), rauchen die beiden eben die „Zigarette danach“. Hat die Frau also tatsächlich ihre „Sünden“ bekannt, ist sie jetzt gereinigt von Schuld, erleichtert und kann sich belohnen – mit dem Segen des Priesters, der ebenfalls raucht. In diesem Falle mag es also durchaus Laster und Sünden geben: WEST-Rauchen gehört jedenfalls nicht dazu.

Wichtig festzuhalten ist aber, dass bei aller „Offenheit“ der möglichen Lesarten, bei aller Zweideutigkeit der Aussage immer eine entscheidende Proposition erhalten bleibt: Rauchen ist positiv, kein Normverstoß, kein böses Laster – denn entweder ist nichts von dem, was mit dargestellte Situation assoziiert werden kann, eine Sünde, dann eben auch nicht das Rauchen, oder aber alle Sünden sind getilgt und das Rauchen danach ist ein harmloses und erlaubtes Vergnügen.

In beiden Fällen haben wir es demnach mit einer Welt zu tun, in der die dargestellten Personen frei von aller Last und mit bestem Gewissen genießen können.

Logo und Slogan

Auf allen Werbebildern der Zigarettenmarke West ist die Aufforderung „TEST IT.“ zu lesen. Wie die Bilder selbst so ist auch dieser Slogan zweideutig, er kann heißen, probier die Zigaretten unserer Marke, er kann aber auch dazu auffordern, sich auf jene neue ungewöhnliche Situation der Werbebilder einzulassen, mit Hilfe von Zigaretten ganz neue Menschen kennen zu lernen, den engen Raum des eigenen sozialen Milieus zu verlassen. Die Botschaft könnte lauten: sei flexibel, innovativ, offen, kreativ, furchtlos, … modern eben…

Folgerichtig besteht das Logo nicht aus einer „Person“, sondern aus zwei Figuren und einem Rahmen. Die Figuren sind offensichtlich aus fünfzackigen Sternen entwickelt. Sie strecken die Arme in die Höhe und haben die Beine gespreizt. Sie könnten sich freudig begrüßen. Eine steht vor dem Rahmen und ist dabei mit dem rechten Bein die Schwelle zu durchdringen, die andere dahinter. Sie sind verschieden, die vordere ist goldgelb ausgemalt, die andere nur in Outline-Version. Die vordere Figur, die wir demnach von hinten sehen, geht durch den Rahmen auf die andere zu. Wir haben die Wiederholung der Bildbotschaften, bzw. die Bilder sind Varianten zum Logo.

Zusammenfassung

Es hat sich gezeigt, dass Werbebotschaften nicht einfach sein müssen, nur weil wir ihnen wenig Aufmerksamkeit widmen können und wollen. Für die werbetreibenden Unternehmen kann es vielmehr von Vorteil sein, wenn ein Rest „Geheimnis“ bleibt, wenn das Bild nicht ganz verstanden wird und die Interpretation nicht abgeschlossen werden kann. Wichtig dagegen ist, dass das Bild genau solche Deutungsvarianten zur Auswahl stellt, die jeweils die zentrale „Botschaft“ der Äußerung ableitbar machen – gleich welche dieser „Lesarten“ der Rezipient wählt. Und dies gelingt den angesprochenen WEST-Werbeanzeigen nachweisbar. Außerdem hat sich gezeigt, dass beiden Beispielen die gleiche kommunikative Strategie zugrunde liegt, nämlich die Überschreitung von Grenzen und die Störung und Veränderung von Ordnungen zu zeigen. Aus der Spannung zwischen den beiden semiotischen Sphären, den beiden konkurrierenden Ordnungssystemen, versuchen die Werbestrategen die Energie zu gewinnen, die die Betrachter dazu bringt, diesen Botschaften ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Was dabei letztlich entsteht, ist die Erkenntnis der Relativität und Vereinbarkeit dessen, was da äußerlich zunächst als unvereinbar oppositionell erscheint: In der „WEST-Gemeinde“ gibt es keine Fundamentalisten, dafür aber eine schier unerschöpfliche Oberflächenvarianz. Differenz ist eine Differenz der Erscheinung, des zur Schau gestellten ästhetischen Modells, das aber keinesfalls exklusiv, sondern vielmehr gemeinschaftsbildend funktioniert. WEST-Raucher sind vor allem eines: offen und genussfreudig. Sie müssen nicht tolerant sein, weil sie wissen, dass andere nicht grundsätzlich andere Werte und Normen vertreten, sondern eben nur andere ästhetische und hedonistische Präferenzen haben.

Was wiederum „Genuss“ genau ist, kann und darf WEST nicht abschließend definieren: Gezeigt wird vielmehr, dass unterschiedlichste Subjekte offenkundig unterschiedlichste Verhaltens- und Selbstdarstellungsweisen genießen können. Genuss ist also höchst individuell und subjektiv und niemand kann wissen, was ihr oder ihm gefällt, solange sie oder er es nicht ausprobiert hat. In einer Welt voller potentieller Genussmöglichkeiten ist demnach das Ausprobieren der Königsweg zum Genuss. TEST IT. ist somit mehr als ein bloßer Verkaufsspruch: die WEST-Werbung stilisiert ihn zur Lebensphilosophie.

Markentechnisch sind damit zwei Strategien verknüpft: Einerseits geht es darum, Raucher etablierter Erfolgsmarken wie MARLBORO zum Umsteigen zu animieren. Wer immer das gleiche tut, die gleiche Marke raucht… – dem entgeht womöglich eine potenzielle Genusserfahrung. Es geht aber nicht nur um spezifische Marken, sondern auch um das Segment: da WEST preiswerter ist als viele andere Marken, kann der Konsument grundsätzliche Zweifel an der Qualität hegen oder befürchten, als Raucher einer „Billigmarke“ angesehen zu werden und damit ein persönliches Imageproblem zu schaffen. Auch hier kann die positive Semantisierung von „Offenheit“ greifen – und sei es nur dann, wenn der WEST-Raucher sich gegenüber anderen damit „entlasten“ kann, dass er sich darauf beruft, er habe eben auch diese Marke mal probieren wollen: TEST IT.

Selbstverständlich hat diese Werbebotschaft aber auch einen Haken: Marken-Treue kann mit dieser Strategie nicht hergestellt werden.

Anregungen für den Unterricht:

  • in einer Klausur die kurzen Bildanalysen von Franz Josef Röll aus den BDK-Mitteilungen 3/2001 kritisch diskutieren lassen
  • auf der Grundlage des Beichtstuhlbildes bzw. ähnlicher Beispiele eine Filmhandlung entwickeln lassen; wie ist es soweit gekommen? wie wird es weitergehen? Was haben die unterschiedlichen Deutungen/Geschichten gemeinsam?
  • ähnliche Situationen zu beiden Beispielen erfinden und inszenieren
    Weitere Beispiele für WEST-Werbebilder finden sich unter der Adresse http://www.west.de/ und zwar unter der Rubrik „shop“. (im August 2018 ist das leider nicht mehr so leicht.)

 

Literatur:

Baudrillard, Jean: „Der symbolische Tausch und der Tod“, München 1982
Kroeber-Riel, Werner, Bildkommunikation: Imagerystrategien für die Werbung, München 1993
Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften: was macht Produkte einzigartig und unverwechselbar?, Wien 1993
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München 1972,
McGee, Robert: Story: substance, structure, style, and the principles of screenwriting, New York 1997
Müller, Michael, Sottong, Hermann: Der symbolische Rausch und der Kode, Tübingen 1993
Renner, Karl N.: Räume – Grenzen – Handlungen: Die Grenzüberschreitungstheorie als Analyseinstrument von Texten und Filmen, Vorlesung an der Universität Mainz 14.12.1998, www.journalistik.uni-mainz.de/grenz.htm