Zuerst erschienen in Fachblatt des BÖKWE 2/2005, Wien, S. 4 – 6 – nur leicht geändert.

Der folgende Text möchte zum einen grundsätzlich die Frage bedenken, wie wir Bilder verstehen,  und zum anderen Anregungen für einen Unterricht zu dieser Problematik geben.

Grundsätzliche Fragen, die im Unterricht diskutiert werden können:

— Was heißt (Bilder) verstehen? (Eine große philosophische Frage. Vielleicht lässt sie sich durch Antworten auf die folgenden eher pragmatischen Fragen teilweise beantworten. Auf jeden Fall können diese dazu beitragen, Bilder bewusster und damit besser in der Kommunikation einzusetzen.)
— In welchen Situationen wollen wir etwas verstehen?
— Wie merken wir, dass wir etwas verstanden haben?
— Wann sagen wir, dass wir etwas verstanden haben?
— Wie merken wir, dass wir verstanden worden sind?
— Woran merken wir, dass es etwas zu verstehen gibt?
— Wie merken wir, dass es nichts zu verstehen gibt?
— Wann beenden wir den Versuch, etwas zu verstehen?
— Warum werden gewisse Botschaften so formuliert, dass sie nicht leicht zu verstehen sind?
— Warum werden gewisse Botschaften so formuliert, dass sie leicht zu verstehen sind?

Verstehen

Zwei interessante Fragen:
Unter welchen Umständen kommen wir auf die Idee, etwas nicht zu verstehen? Unter welchen Umständen kommen wir auf die Idee, dass es bei einer Sache etwas zu verstehen gibt?

Das Wort „verstehen“ bezeichnet im Deutschen sowohl den Vorgang wie das Ergebnis des Verstehens – nicht gerade einfach für das Verständnis. Ähnlich ist es mit den Wörtern Interpretation und Wahrnehmung; auch hier kann der Prozess oder das Ergebnis gemeint sein.

Für uns geht es im Leben darum, dass wir in der Welt zurechtkommen, d.h. angemessen verhalten, was immer das im Einzelnen bedeutet. Dazu brauchen wir möglichst exakte Vorhersagen für die Zukunft. Diese bekommen wir nur, wenn wir die Welt verstehen, d.h. Zusammenhänge (er)kennen. Die Zusammenhänge sollen möglichst widerspruchsfrei sein; denn eine widerspruchsfreie Welt ist eine sichere und vor allem eine vorhersagbare Welt. Verstehen ist – so gesehen – eine grundlegende Art, wie wir der Welt gegenübertreten. Das Verstehen im Zusammenhang mit Kommunikation ist nur ein Sonderfall.

Wenn eine Wahr­nehmung oder Interpretation (jegliche Wahrnehmung ist kognitionstheoretisch gesehen eine Interpretation von Nervenreizen.) einer aus anderen Sinnen widerspricht oder nicht in den Zusammenhang oder zu unserem Wissen passt, haben wir das Gefühl, dass wir etwas nicht verstehen. In einer solchen Situation versuchen wir, durch entsprechende Uminterpretation oder durch Einbeziehen von anderen Zu­sammenhängen zu einer Deutung zu kommen, die widerspruchsfrei passt: zuerst schauen wir noch einmal genau hin, prüfen die Interpretationen/Wahrnehmungen noch einmal, ob wir uns nicht etwa getäuscht haben. Wenn dies ausgeschlossen werden kann, versuchen wir Zusammenhängen zu finden, die die Widersprüche aufheben.

Wenn wir mit anderen kommunizieren, machen wir es genauso. Wenn wir nichts verstehen, dann fragen wir nach, um eventuell unsere Interpretation der Äußerung zu ändern. Wenn wir nicht nachfragen können, versuchen wir (andere) Zusammenhänge zu finden, in denen die Äußerung einen Sinn ergibt. Meistens laufen die beiden Ansätze ineinander verschränkt ab. Verschiedene Interpretationen werden mit verschiedenen Situationseinschätzungen so lange verglichen, bis sie zusammenpassen. Vor allem in der One-Way-Kommunikationssituation über Medien, die kein direktes Nachfragen zulassen, wird uns diese Art des Bemühens um Verstehen bewusst.

Bevor wir uns mit Bildern beschäftigen, schauen wir uns eine alltägliche Situation an:

Draußen ist es kalt und drinnen so kühl, dass man fröstelt. Da sagt jemand: „Vielleicht sollten wir ein Fenster aufmachen.“ Die Situation und die Äußerung passen nicht zusammen. Als erstes vergewissern wir uns, ob wir die Lautfolge richtig verstanden haben. Besteht daran kein Zweifel, dann checken wir die Situation ab: ist es nur mir kalt, bin ich etwa krank, ist dem anderen warm, hat der andere möglicherweise mehr an als ich? Wenn etwas davon zuträfe, dann würde die Äußerung vom Sprecher ausgesehen einen Sinn ergeben. Wenn das alles ausgeschlossen ist, dann kann ich etwa davon ausgehen, dass diese Äußerung ironisch gemeint ist: der andere will sagen, hier ist es kalt, es sollte besser geheizt werden … Ich habe für die Äußerung einen Zusammenhang gefunden, in dem sie sinnvoll ist. Der Satz ist nicht wortwörtlich gemeint. [Nebenbei haben wir das vermutlich schon am Tonfall der Äußerung gemerkt.]

Wenn der andere dann doch das Fenster aufmacht mit der Begründung, die Luft sei schlecht, dann verstehen wir, dass sich seine Äußerung nicht, wie wir angenommen haben, auf die Kälte bezogen hat…

Sollte uns es uns nicht gelingen, eine derartige Situation aufzulösen, dann können wir verschieden reagieren:

… Hier gibt es nichts zu verstehen, die beiden Interpretationen haben nichts miteinander zu tun, oder besser, die beiden Erscheinungen haben nichts miteinander zu tun, sie sind lediglich zufällig nebeneinander aufgetreten… es handelt sich um Quatsch … es lässt sich zwar vermutlich verstehen, aber ich nehme mir dafür keine Zeit … die Äußerung ist nicht für mich bestimmt … man kann nicht alles verstehen … wird schon nicht wichtig sein …

Gibt’s was zu verstehen?

Damit wir Verstehen als Vorgang starten können, müssen wir wissen, dass es überhaupt etwas zu verstehen gibt.

Quelle: Bo Bergström, Bild & Budskap, Stockholm 2001, S.56 Fotograf: Ingvar Eriksson, Auftraggeber Systembolaget

Dass dieses Bild kein Zufallsprodukt ist, sehen wir mit unserer Erfahrung sofort. Es wirkt hochgradig konstruiert und künstlich. Es herzustellen ist aufwändig. Es braucht einen Profi mit entsprechendem Equipment. Deshalb gehen wir davon aus, dass es sich um ein kalkuliertes Bild handelt, dem ein intensive Planung vorausgegangen ist, um ein Bild, mit dem eine bestimmte Absicht verbunden ist. Wir würden es wegen seiner Künstlichkeit entweder der so genannten künstlerischen Fotografie oder der Werbung zu ordnen.

Woran wir merken, dass dieses Bild kein Zufallsprodukt ist. Strahl, der aus dem Mund kommt, wie das Glas gehalten wird, dass der Strahl genau in die Bildecke geht, Hintergrund, Beleuchtung, Highspeed-Aufnahme, Schwarzweißfoto …

Bild als Prädikat

Was allerdings mit dem Bild genau kommuniziert werden soll, lässt sich ohne zusätzliche Information nicht sagen. Bilder sind lediglich Prädikate, wer mit ihnen kommunizieren will, muss den Gegenstand, über den das Bild ist, mitliefern. Dies geschieht in der Regel explizit durch die Bildunterschrift oder implizit durch den jeweiligen Zusammenhang.

[Darauf hat schon Ende des 19. Jahrhunderts der russische Linguist und Literaturhistoriker Alexander Potebnja hingewiesen:   „Das Bild ist ein unveränderliches Prädikat veränderlicher Subjekte, ein konstantes Mittel der Attraktion für wechselnde Apperzeptionen“ (A. P. in: Bemerkungen zur Literaturtheorie, S.314, zitiert bei Viktor Sklovskij: Theorie der Prosa  (FISCHER TASCHENBUCH VERLAG) Frankfurt am Main (1984) S. 7. Klaus Sachs-Hombach kommt, offenbar ohne A. Potebnjas Aussage zu kennen, in seinem Aufsatz: „Bild und Prädikation“, in ders. (Hrsg.)(2001)  Bildhandeln, SCRIPTUM VERLAG Magdeburg, S.55-76, zu einem ähnlichen Ergebnis.]

Quelle: Bo Bergström, Bild & Budskap, Stockholm 2001, S.57 Fotograf: Ingvar Eriksson, Auftraggeber Systembolaget

Dieses Bild wurde mit der Unterschrift Ausgesucht in einer Werbeanzeige (Kontext) der schwedischen Alkoholvertriebsgesellschaft (Systembolaget) verwendet (kleines Bild). Wir erkennen das Genre Werbung am Zusammenhang (Plakatwand, Anzeige in einer Zeitschrift, Flyer, Plakat in einem Schaufenster) und an der Gestaltung. Damit sind wir uns sicher, dass uns etwas mitgeteilt werden soll im Sinne von: kauft unsere Produkte, vertraut unserem Service o.ä.
Aber was genau?

Widersprüchliches

Bild
Das Bild zeigt einen Mann, der eine Flüssigkeit ausspuckt, dies erkennen wir, weil wir schon anderswo ähnliche Highspeed-Aufnahmen gesehen haben. Offensichtlich ist es Wein; denn er hält ein Weinglas in seiner linken Hand. Die Interpretation Weinglas – wir verwenden unterschiedliche Gläser für unterschiedliche Getränke – macht aus der unspezifischen Interpretation Flüssigkeit die spezifische Interpretation Wein. Mit Hilfe des Glases deuten wir also die Flüssigkeit, ein anderes Glas würde ein anderes Getränk „bedeuten“. Das ergibt sich aus der räumlichen Nähe im Bild und unserem Wissen, dass aus Gläsern getrunken wird und wir in der Regel den Mund nicht vollnehmen und dann das Glas wechseln. [Wobei wir als gewitzte Werbekonsumenten durchaus wissen, dass das konkrete Fotomodell vermutlich Wasser ausspuckt, trotzdem verstehen wir, was mit dem Bild „gesagt“ werden soll.] Der Hintergrund ist neutral wie in einem Fotostudio, so können wir am abgebildeten Raum nicht erkennen, wo und was der Mann ist.
Wir spucken was aus, wenn es uns nicht schmeckt. Wir schließen: Dem Mann schmeckt der Wein nicht. Allerdings spuckt er ihn ziemlich manieriert aus.

Text
Unter dem Bild steht „ausgesucht“ – das scheint der Botschaft des Bildes zu widersprechen. Wie kann ein Wein ausgesucht sein, der offensichtlich nicht mundet? Von einer Firma, die sich ansonsten immer zugute hält, nur beste Qualität anzubieten? Die Aussage des Bildes passt nicht mit der des Textes zusammen.
Verstehen bedeutet, diese Lücke zu schließen. Wir können sie schließen, weil wir wissen, dass ein Weintester bei der Weinprobe auch die beste Qualität wieder ausspuckt, um nicht betrunken zu werden. Hier wird ausgespuckt, um auszusuchen. So wird das Ausspucken zu einem Zeichen für besondere Qualität. Wir verstehen dieses Bild und seinen Untertitel, indem wir beide in einen Zusammenhang bringen, in dem sie jeweils einen Sinn ergeben.

Kommunikation ökonomisch gesehen

Kommunikationsökonomisch betrachtet lässt sich eine generelle Formel aufstellen:
High context – low content
Low context – high content.
Je weniger bekannt der Zusammenhang ist, desto mehr Informationen muss eine Äußerung enthalten und desto regelbasierter muss sie formuliert sein, um verstanden zu werden, je eindeutiger der Zusammenhang ist, desto geringer kann die Information ausfallen und desto „freier“ kann sie formuliert werden. Wenn wir Leuten zuhören, die in einem Raum miteinander umgehen, ohne dass wir sie sehen können, verstehen wir kaum, wovon sie sprechen.

Aus der Kunstgeschichte kennen wir die Problematik, dass zu gewissen Gemälden die Legende, also die Anweisung wie sie zu lesen sind, verloren gegangen ist; die Forschung versucht in diesen Fällen den Kontext zu rekonstruieren, um daraus den Sinn zu erschließen. [Hans Dieter Huber (2003): Irritierende Bilder – Wie verstehen wir, was wir sehen? in: Sachs-Hombach, Klaus (Hrsg.) (2001): Bildhandeln, SCRIPTUM VERLAG Magdeburg, S.129-148]

Nicht selbstverständlich

Es stellt sich hier die Frage, warum in der Werbung, die ja doch eine eindeutige Botschaft hat und unbedingt verstanden werden soll, Formulierungen gewählt werden, die sich nicht sofort und von selbst verstehen, warum eine Lücke zwischen Text und Bild geschaffen wird.
Warum wählt die Firma nicht eine Reihe von Weinflaschen als Illustration für die Aussage „Ausgesucht“, oder noch besser, warum wählt sie nicht ein Bild mit Weinflaschen und dem Text: Wir wählen für Sie nur die besten Weine aus. oder Unsere Weine sind ausgesucht gut.?
Oder sie bleibt bei dem Bild mit dem Weintester, platziert ihn in eine eindeutige Umgebung, etwa in einen Weinkeller, und schreibt darunter: Weintester bei der Arbeit. Unsere Weintester scheuen keine Mühen, um für Sie die besten Weine zu finden!?
Offensichtlich sollen die Betrachter nicht sofort verstehen, was gemeint ist. Dafür kann es zwei Gründe geben:

1. Aufmerksamkeit
Wenn der Betrachter dazu gebracht werden kann, die beiden Aussagen als Rätsel anzunehmen, wird er aktiv, bleibt mit seiner Aufmerksamkeit einen mehr oder weniger langen Moment bei der Sache (Interpretationsversuch) und hat dann eine eigene Bedeutung konstruiert, die er länger behält und vielleicht sogar anderen weitererzählt. Praktiker sagen, dass eine Anzeige spannend sein muss, damit die Betrachter bei der Sache bleiben. Spannung entsteht immer dann, wenn wir eine Situation vor uns haben, deren Ausgang offen ist [Sportübertragungen, mit knappen Ergebnissen, Kriminalromane &c.] , ein Rätsel ist so lange spannend, so lange die Interpretationen offen sind. [Es gibt immer wieder Fernsehwerbespots, die so konstruiert sind, dass wir sie erst nach mehrmaligem Anschauen verstehen. Vgl. auch Billmayer/Sottong: Test it! Rauchzeichen zu Werbebildern. In BDK-Mitteilungen 4/2001]

2. Sozialsystem
Die Lücke, die sich zwischen dem Bild und dem Text auftut, kann nur schließen, wer weiß, wie Weinproben ablaufen. Dieses Wissen ist kulturabhängig, es unterscheidet die Weinkenner von denen, die nichts davon verstehen – ein Kind unter zehn versteht dieses Bild vermutlich nicht. [Kleinere Kinder verstehen vielleicht nicht einmal, dass eine Flüssigkeit dargestellt wird, weil sie Highspeed-Aufnahmen nicht kennen.] Dieses Wissen schließt die einen ein und damit andere aus, es ist systembildend. Verstehen macht – so gesehen – nicht nur Spaß („Ich habe das Rätsel gelöst.“), sondern auch einen kleinen Unterschied („Ich gehöre zu denen, die das verstehen.“).
So wird verständlich, warum nicht alle Botschaften so formuliert werden, dass sie sofort von allen verstanden werden. Die Werbung hat sich mittlerweile so entwickelt, dass die Adressaten bei leicht verständlicher Werbung denken: die halten uns wohl für ziemlich blöd. Wenn wir allerdings gar nichts verstehen, fühlen wir uns ausgeschlossen und reagieren entsprechend verärgert. [Witze-Erzählen und -Verstehen erfüllen einen ähnlichen Zweck. Ähnlich funktionieren auch Embleme.]

Geheime Zeichen

In Geheimgesellschaften dienen Zeichen dazu, anderen Mitgliedern mitzuteilen, dass man selber dazu gehört. Selbstverständlich sollen diese Zeichen nur den Eingeweihten verständlich sein. Das Deuten der Zeichen schließt also einen bestimmten Personenkreis ein alle andern aus. Die Uneingeweihten sehen entweder gar kein Zeichen oder sehen seine tiefere Bedeutung nicht. Diese Zeichen funktionieren dann am besten, wenn die anderen erst gar nicht wissen, dass es sich um (geheime) Zeichen handelt, denn sonst könnten sie sich ja um eine Entschlüsselung und damit um ein Verstehen bemühen. Vgl. Siebenerzeichen

Kunst verstehen.

Die vordringliche Aufgabe moderner Kunst liegt nicht in der Kommunikation, sondern darin, alternative und neue Sichtweisen zu entwickeln und anzubieten. Jede nicht richtig verstandene Äußerung ist – so gesehen – eine eigene Weltsicht. Kunstwerke, die schwer oder unverständlich sind, erfüllen ihren Zweck in der Regel besser als solche, die leicht verstanden werden?
Die moderne Kunst ist – zumindest in den Augen vieler – nicht leicht verständlich, darauf ist sie stolz. Sie trägt ihre Schwerverständlichkeit wie ein Banner vor sich her.
[Vgl. zu den Strategien, die hier im Kunstsystem zu Einsatz kommen: Wolfgang Ullrich: Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst. Berlin (Verlag Klaus Wagenbach) 2003 und Christian Demand: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte. Springe (zu Klampen Verlag) 2003]
Vor dem Hintergrund betrachtet, dass Bilder lediglich Prädikate sind, können wir die Kunst als Bilder oder allgemeiner als Äußerungen verstehen, bei denen der Betrachter die Freiheit hat, das, worum es geht, jeweils selbst einzusetzen, und das weitgehend nach Lust und Laune. [Eine Zeitlang – etwa in den 1970er Jahren war es üblich Kunst mit „ohne Titel“ zu betiteln.] So erklärt sich relativ leicht, warum Kunstwerke so überraschend vieldeutig erscheinen und für viele gar unergründlich sind.
Wer sich hierbei nicht auf sich selbst verlassen will, der orientiert sich an der umfangreichen Kunstbegleitliteratur. Diese erzeugt enorme Textmengen mit schwer verständlichen und tief philosophischen Sätzen, um zu zeigen, dass scheinbar leicht verständliche Werke eine enorme Tiefe besitzen. Kunstwerke, die leicht verstanden werden, werden in einen Kontext gestellt, der zeigt, dass das Verstehen nur scheinbar einfach ist. Dem uneingeweihten Betrachter wird so gezeigt, dass er auf sein eigenes Verständnis hereingefallen ist, dass er aus Unwissen meint, schon verstanden zu haben, wo es viel mehr zu verstehen gibt. Ähnlich wie der Nichteingeweihte, der sich mit der oberflächlichen Interpretation von Geheimzeichen zufrieden gibt, und das „eigentliche“ übersieht. In vielen Fällen wird dies dadurch erreicht, dass mehrere sich teilweise widersprechende Gegenstände genannt werden, über das das Kunstwerk ist. Es entstehen so Interpretationszwischenräume, die sich nicht schließen lassen.
[ Mein Eindruck ist, dass dieses Spiel schön langsam zu Ende geht, damit wird sich dann notgedrungen auch die Kunst verändern; denn es ist bisher zentral.
Aber interessant: vielleicht ist das gar nicht so, möglicherweise ist sie über weite Strecken nicht zu schwer, sondern zu leicht zu verstehen und viele meinen nur, es müsste mehr dahinter sein.]
Das „Na und?“, das modernen Kunstwerken von den so genannten Laien oft entgegen gehalten wird, bezieht sich bei weitem nicht immer auf das „Das kann mein Fünfjähriger auch“, sondern vor allem darauf, dass sich der „Witz“ nicht erkennen lässt. Das Kunstwerk erscheint dem Ungläubigen banal, weil es schnell verstanden ist und ihm nichts anbietet, für das es sich lohnt, sich um ein Verständnis zu bemühen.

Noch zwei Beispiele
Eines der wichtigsten und folgenreichsten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts ist Duchamps Fontäne, das Urinal, das er 1917 signiert, auf einen Sockel gestellt und mit dem Titel Fountain versehen hat. Über dieses Werk ist viel geschrieben worden, man hat immer wieder darauf hingewiesen, dass das Stück Sanitärporzellan aus seinem Kontext genommen wurde und um 90° gedreht auf einen Sockel gestellt wurde. Die 90°-Drehung wird dabei immer als ein besonderer Akt verstanden. [Dazu ausführlich, erhellend und spannend Uli Schuster. Spaßvögel als Wegbereiter der Moderne. vom selben Autor: Was macht ein Werk zum Kunstwerk?]
Der Interpretationsvorgang ist nicht viel anders als bei unserem Weinverkoster, die Verbindung zwischen den beiden Interpretationen bietet etwa Manneken-Pis aus Brüssel mit seinen unzähligen Varianten.

Ähnlich funktionierte die Nudelwerbung der Münchner Firma Bernbacher mit dem Titel „verlockend“.

Bernbacher Werbung

 

Der Unterschied zwischen The Fountain und verlockend liegt in der kulturellen Wertschätzung und in der umfangreichen bzw. kaum vorhandenen Begleitliteratur, nicht in der prinzipiellen Struktur des Verstehens.

Fragen

  • In welchen Situationen werden Formulierungen gewählt, die eine kompliziertere Interpretation (weniger schematisch, zeitaufwändiger) brauchen als nötig?
  • In welchen Situationen verärgern uns derartige Formulierungen, in welchen machen sie uns Freude?
  • Woran erkennt man auch ohne Kontext (Text, Ort), dass ein Bild zum Genre Werbung gehört?

Christina Eddiks stellt mit ihrer Diplomarbeit Dem Emblem auf der Spur eine Verbindung zwischen den Genres Werbung und Emblem her.