Bemerkungen zur Diskussion über Kompetenzen in der Kunstpädagogik

zuerst erschienen in BDK-Mitteilungen 2.2018, S. 12-14. —

Hier der Leserbrief von M. Klingmann zum Artikel in den BDK-Mitteilungen 4.208 Leserbrief_Klingmann_BDK-Mitteilungen-2018_4

Mein alltagsphilosophisches Wissen sagt mir: Leute leben in verschiedenen Welten. Wenn es aber um etwas geht, fällt es mir nicht leicht, die Existenz von Parallelwelten zu akzeptieren bzw. zu verstehen. Bei der Diskussion um die Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik geht es mir so.

Mich interessiert Visual Literacy; es macht mir Spaß, über die verschiedenen Facetten von visuellen Kompetenzen nachzudenken (Wagner/Schönau 2016⁠; envil.eu). Es interessiert mich zu schauen, was einen Menschen ausmacht, der in der Welt visuell basierter multimodaler Kommunikation (Kress 2010) zurechtkommt. Wie setzen sich seine Fähigkeiten zusammen? Was braucht man, um angemessen zu handeln? Und wie stellen wir es als Lehrende an, dass Kinder und Jugendliche entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben bzw. entwickeln? Ich bilde mir ein, das Schauen durch die Kompetenzbrille ermöglicht mir veränderte Blicke und vor allem Blicke auf das Fach, für das ich zuständig bin. Ich vermeide hier „Kunstpädagogik“, weil der Begriff das Feld unnötig einengt. Bereits wir in Österreich sprechen allgemeiner von Bildnerischer Erziehung, die Schweizer von Bildnerischem Gestalten.

Zugegeben: Ich halte mich für einen Pragmatiker. Diese Einstellung habe ich schon länger und sie ist durch die Beschäftigung mit den Kompetenzen noch fester geworden. Ich erwarte mir von der Orientierung an Kompetenzen eine Befreiung des Unterrichts aus seiner Beliebigkeit und auch eine Professionalisierung des Lehrerberufes. Professionalisierung bedeutet auch, Lehrerinnen und Lehrer definieren Qualitätsstandards und überlassen es den Einzelnen, wie sie diese jeweils erreichen.

Doch dann lese ich Texte, die von apokalyptische Ängsten geprägt sind. Manchmal habe ich den Eindruck, ich verstehe, was deren Autorinnen bzw. Autoren meinen und auch was sie fürchten. Allerdings finde ich das, was sie benennen und womit sie ihre Ängste begründen, in der Realität kaum bzw. bewerte diese anders.

Sorgen

In den BDK-Mitteilungen sind vor einiger Zeit zwei Artikel von ausgewiesenen Kompetenzskeptikern erschienen: „Schwarze Pädagogik 4.0“ von Pierangelo Maset (Maset 2017)⁠ und „Kompetenz als ‚Fähigkeit zur Anpassung‘“ von Jochen Krautz (Krautz 2010). Beide Autoren schreiben allgemein über die Kompetenzorientierung der derzeitigen Bildungspolitik und -theorie. Kompetenzbeschreibungen oder -modelle aus der Kunstpädagogik oder angrenzenden Fächern werden weder genannt noch diskutiert. Krautz bemerkt lediglich „Auch im Kunstunterricht erworbene ‚Kompetenzen‘ können zu allem möglichen zeitgenössischen Unsinn genutzt werden.“ (Krautz 2010, S. 14), ohne den möglichen Unsinn näher zu benennen. Beide treibt die Sorge um, dass die Kunstpädagogik auf verwertbares Wissen und Können reduziert wird. Damit würde sie ihren Charakter verändern oder gar ganz aufgeben.

Kompetenzbeschreibungen definieren die Ziele von Lernen und Unterrichten im Sinne von erwartbaren Lernergebnissen in verständlichen Sprache. So verstehen Schülerinnen und Schüler, deren Eltern, aber auch Bildungspolitikerinnen und -politiker, was ein Fach leistet bzw. zu leisten verspricht. Leider gelingt es nicht immer, eine einfache Sprache zu finden. Der BDK hat als Interessenvertretung deshalb auf vorbildliche Weise schon vor Jahren Kompetenzen beschrieben (BDK 2008). Doch das ist nicht alles. Kompetenzbeschreibungen bieten Lehrenden und Schulaufsicht Kriterien und Vergleichsmaßstäbe. Erreicht der Unterricht das, was er verspricht? Was ist gegebenenfalls zu tun, um die Qualität zu verbessern?

Instrumente können unterschiedlich verwendet und verstanden werden. Für Maset sind Kompetenzen Werkzeuge der Technokratie. Ihre Funktion liegt in der „Normierung, Standardisierung und Kontrolle“ (Maset 2017, S. 26). Er diagnostiziert: „…ein großer Teil der heutigen pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Literatur ertrinkt nahezu in technokratischen Sprachformeln…“ (S. 24). Nach seiner Beobachtung beschäftigt sich „die heutige pädagogische Aufmerksamkeit […] vor allem mit diagnostischen, psychometrischen und kompetenzorientierten Aspekten, die pädagogische Prozesse im Sinne von mess- und berechenbaren Einheiten beobachten, womit eine kybernetische Ausrichtung des Bildungsgeschehens einhergeht.“ (S. 24) Er sieht die Pädagogik also von mathematischen (Berechenbarkeit, Messbarkeit) Verfahren in ihrer Freiheit bedroht. Zudem befürchtet er, dass das „fachlich besondere Wissen“ zugunsten „verallgemeinerungsfähige(r) Kompetenzen“ an Einfluss auf den Unterricht verliert (S. 26).

Argumente

Die Angst, die Maset umtreibt, sitzt offensichtlich so tief, dass er von einer ‚Schwarzen Pädagogik 4.0‘ schreibt. Er bezieht sich dabei auf Katharina Rutschkys Buch „Schwarze Pädagogik“ von 1977. Er zitiert daraus: „‚Die schwarze Pädagogik ist der tendenziöse Versuch, die Folgen und Begleiterscheinungen der Aufmerksamkeit zu dokumentieren, der Heranwachsende seit dem 18. Jahrhundert ausgesetzt sind.‘ […] Als Eingangszitat wählte sie [Katharina Rutschky, der Verf.] eine berühmte Passage aus der ‚Dialektik der Aufklärung‘: ‚Nicht das Gute, sondern das Schlechte ist der Gegenstand der Theorie. […] Ihr Element ist die Freiheit, ihr Thema die Unterdrückung.‘“ (S. 24) Dieses Zitat bleibt für den Maset-Leser kryptisch, eröffnet aber einen Horizont des Raunens. Wie bei der oben angesprochenen Technokratie geht es, so scheint es, um das Böse schlechthin. Worin dieses genau besteht, bleibt jedoch im Dunkeln.

Außerdem spricht – nach Maset – gegen die Kompetenzen, dass „der Begriff sich wissenschaftlich nicht eindeutig begründen lässt“ (S. 26). Das wiederum ist ein lustiges Argument, da es Masets Kritik der Messbarkeit und damit Benennbarkeit auf den Kopf stellt.

Noch weniger leuchtet mir das folgende Argument ein: „Begibt man sich tiefer in die Problematik, kommen bemerkenswerte Zusammenhänge ans Licht, zum Beispiel, dass der für die Kompetenzorientierung zentrale Grundsatz ‚Das Wissen muss ein Können werden‘ einen prominenten Vorläufer hat, nämlich den preußischen General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz, der genau diesen Satz im frühen 19. Jahrhundert in seiner Schrift ‚Vom Kriege‘ formuliert hatte.“ (S. 26) Maset befürchtet offensichtlich, die Kompetenzorientierung sei nicht nur technokratisch, sondern im Grunde militaristisch.

Dieses geflügeltem Wort von Clausewitz habe ich noch nie im Zusammenhang mit Kompetenzen gelesen. Ich verstehe auch die Kritik an ihm nicht. Ich habe mir immer Wissen angeeignet, um etwas zu können.

Ähnlich unverständlich ist mir die Argumentation basierend auf Konrad Paul Liessmann: „Unter dem Titel Kompetenz […] hat sich eine bisher noch nie gekannte Subjektivität und Beliebigkeit in die Unterrichtspraxis eingeschlichen, bei gleichzeitiger exzessiver Ausdehnung des damit verbundenen bürokratischen Aufwands.“ (S. 26) Liessmann kritisiert hier die Verlagerung der Verantwortung für den Unterricht vom Lehrplan auf die einzelne Lehrerin bzw. den einzelnen Lehrer. Das ist ein wesentliches Ziel der Kompetenzorientierung. Aus der Kritik Liessmanns folgt meines Erachtens die Forderung nach mehr Kontrolle. Gerade das aber kritisiert Maset doch eigentlich.

Darüber hinaus meint er, dass „…es – noch – eine wesentliche Stärke des Faches ist, sich außerhalb des Messbaren und jenseits der Standards zu bewegen“ (S. 25). Die Probleme mit dem Begriff „Standard“ verstehe ich. Hier schwingt so etwas wie Gleichmacherei und Normierung mit. Die Bildungspolitik und -wissenschaft war schlecht beraten, diesen Begriff für die Ziele von Bildung zu verwenden. Allerdings klingt „Qualitätsstandards“ in meinen Ohren zumindest etwas positiver.

Größere Schwierigkeiten macht mir hier jedoch die Vorstellung von etwas, das außerhalb des Messbaren liegt. Mir hat mal einer gesagt: „Alles, was es real gibt, gibt es; und alles, was es gibt, lässt sich zählen oder messen. Wenn man etwas nicht messen oder zählen kann, dann gibt es das nicht.“ Das Nichtmessbare gehört für mich in den Bereich der Religion, in unserem Fall der Kunstreligion (Ullrich 2011). Wer für sich einen Bereich außerhalb der Messbarkeit reklamiert, macht sich unangreifbar wie die Priester einer Religion und versucht, das eigene Handeln gegen Kritik zu immunisieren (was nicht gelingen kann).

Unter der Rubrik „Kompetenzen statt Bildung“ meint Maset, die ‚Verfügbarkeit allgemeiner Problemlösungsstrategien‘ stünde dem Begriff der Bildung entgegen (S. 26). Das lese ich beim besten Willen aus der Definition von Weinert nicht heraus. Die Umkehrung von „Kompetenzen statt Bildung“ lautet „Bildung statt Kompetenzen“. Das wiederum ließe sich in meinen Augen als elitärer Ansatz lesen, der viele von Wissen und Bildung ausschließt. Bildung ist Selbstbildung, entsprechende Kompetenzen sind eine Voraussetzung für deren Gelingen.

Schule schafft Voraussetzungen für Bildung, indem sie den Umgang mit Medien (Kulturtechniken) und Texten (Interpretation) einübt. Sie konfrontiert Schülerinnen und Schüler mit neuem Wissen und zeigt Möglichkeiten, wie das Nachdenken über sich und die Welt funktioniert. Ausbildung behindert Bildung nicht, sondern fördert sie, sie macht Lust darauf.

Fürchtet Maset die Kontrolle, so misstraut Krautz der Herkunft der Kompetenzdiskussion, die er (fälschlicherweise) bei der OECD vermutet (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; englisch: Organisation for Economic Co-operation and Development). Der herrschende Kompetenzbegriff, nach dem sich die PISA-Untersuchungen (Programme for International Student Assessment; deutsch: Programm zur internationalen Schülerbewertung) und in deren Folge die Bildungsreformen richten, sei rein funktional. Kompetenz sei „Problemlösungsfähigkeit“, um erfolgreich am wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. „So definiert die OECD, die als Wirtschaftsorganisation bekanntlich für den PISA-Test verantwortlich ist: Schlüsselkompetenzen sollen dazu befähigen, ‚sich an eine durch Wandel, Komplexität und wech­selseitige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt anzupassen‘. ‚Welche anpassungsfähigen Eigenschaften werden benötigt, um mit den (sic!) technologischen Wandel schritt (sic!) zu halten?‘ … Die OECD macht also über die als neue Norm wirkende PISA-Studie die Forderung nach Anpassung unserer Schülerinnen und Schüler an die globale Profitmaximierungsmaschinerie verbindlich.“ (Krautz 2010, S. 13)⁠ Dabei vergisst der Autor die Bedeutung der Wirtschaft für Bildung und ästhetische Erfahrungen (Billmayer 2011).⁠ Noch nie haben so viele Leute daran teilhaben können, wie in dieser (unserer) wirtschaftlich erfolgreichen Gesellschaft. Die Leute, die in ‚der Wirtschaft‘ tätig sind, also die, die arbeiten, finanzieren über ihre Steuern die Schulen und die Kunst. Und: Was bitte ist die Aufgabe der Schule, wenn nicht Kinder und Jugendliche auf ein Leben in der Welt vorzubereiten?

Unterricht und Defizite

Schule beruht als Dienstleistung (Billmayer 1999) auf der Annahme, dass Kinder und Jugendliche Defizite oder Desiderate haben, die durch Unterricht ausgeglichen werden (können). Damit das gelingt, brauchen wir Antworten auf zwei Fragen.

1. Worin bestehen diese Defizite oder Desiderate? Wenn sie nicht benannt werden, gibt es keinen Auftrag, daran zu arbeiten, sie zu beseitigen. Üblicherweise bestellt der Auftraggeber (die Gesellschaft, vertreten durch die [demokratisch gewählte] Bildungspolitik) beim Dienstleister (Bildungssystem) die Behebung von Defiziten: meine Haare sind zu lang, das Auto funktioniert nicht, ich bin hungrig, ich will etwas wissen oder können.

2. Woran merkt das Bildungssystem bzw. die Gesellschaft, dass das Handeln erfolgreich war? Bevor wir beim Frisör zahlen, prüfen wir ob der Schnitt passt. Wenn das Auto nach der mehrstündigen Reparatur immer noch nicht funktioniert, bezahlen wir die Rechnung nicht.

Kompetenzen helfen auf beide Fragen, Antworten im Kontext von Bildung zu geben. Wer Kompetenzbeschreibungen ablehnt, muss Alternativen für die Überprüfung der Dienstleistung Unterricht vorweisen. Die Steuerzahlenden haben ein Recht zu überprüfen, ob sie die versprochene Leistung für ihr Geld bekommen. Nicht die Einführung der Kompetenzorientierung ist sonderbar, sondern dass dies nicht schon vor langer Zeit passiert ist. Wer sich dem entzieht, weckt den Verdacht, dass er Verantwortung ablehnt.

Wunsch

Es wäre wünschenswert, wenn Kompetenzkritiker und -skeptiker sich die Beschreibungen und Modelle aus der Kunstpädagogik anschauen und diskutieren würden, etwa die des „Gemeinsamen Europäischer Referenzrahmen für Visual Literacy – Prototyp“ (Wagner/Schönau 2016). Nachdem ich daran mitgearbeitet habe, freue ich mich über sachliche und konkrete Kritik sowie Anregungen zur Weiterentwicklung.

Literatur

Billmayer, Franz: Kunsterziehung als Dienstleistung. In: BDK-Mitteilungen, 3, 1999, S.6ff.

Billmayer, Franz: Shopping – Ein Angebot zur Entlastung der Kunstpädagogik. In: onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung, 2011. www.zkmb.de/index.php?id=73 [27.11.2017]

Buschkühle, Carl-Peter: Künstlerische Bildung. Theorie und Praxis einer künstlerischen Kunstpädagogik. Oberhausen (Athena) 2017.

BDK: Bildungsstandards im Fach Kunst für den mittleren Schulabschluss verabschiedet von der Hauptversammlung des BDK Fachverband für Kunstpädagogik im April 2008 in Erfurt. In: BDK-Mitteilungen, 3, 2008 S. 2–4.

Krautz, Jochen: Kompetenz als „Fähigkeit zur Anpassung“. Zum Problem unkritischer Begriffsimporte in die Fachdidaktik. In: BDK-Mitteilungen, 2, 2010, S. 13f.

Kress, Gunther: Multimodality – Exploring contemporary methods of communication. London (Routledge) 2010.

Maset, Pierangelo: Schwarze Pädagogik 4.0. Das Fach Kunst im Sog von Kompetenzorientierung und Digitalisierung. In: BDK-Mitteilungen, 1, 2017, S. 24–27.

Wagner, Ernst/Schönau, Diederik (Hg.): Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Visual Literacy – Prototyp. Münster/New York (Waxmann) 2016.

Ullrich, Wolfgang: An die Kunst glauben. Berlin (Verlag Klaus Wagenbach) 2011.

Franz Billmayer ist Professor für Bildnerische Erziehung an der Universität Mozarteum Salzburg und Betreiber von www.bilderlernen.at. E-Mail: franz.billmayer(at)moz.ac.at

Abbildungen

Ausschnitt aus Theresia Salzmanns Bilderbuch. Sie hat das Buch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für ihre Kinder zusammengestellt. (Dank an Wolfgang Herburger.) Das komplette Buch ist hier.