Im folgenden (überarbeiteten) Text möchte ich eine mögliche Sichtweise auf die „Documenta 11_Plattform 5: Ausstellung“ vorschlagen und zur Diskussion stellen. Er wurde in BDK-Mitteilungen 4/2002 veröffentlicht.
Viele BesucherInnen der Documenta 11 erinnern sich nach einiger Zeit nur noch an wenige der gesehenen Exponate. Statt detaillierter Erinnerungen ist ihnen nur ein vager Eindruck und ein Gefühl von allgemeiner Betroffenheit geblieben … ist die Ausstellung damit gescheitert?
Modus
Mit Modus bezeichnen wir die Aussageweise eines Verbs, im Deutschen gibt es drei Modi: den Indikativ, den Konjunktiv und den Imperativ. Den Begriff kann man erweitern und generell auf Äußerungen – auch solche nicht sprachlicher Art – ausdehnen:
„Der Modus einer Äußerung legt fest, in welcher Weise sie mit der Realitätskonzeption der Kultur in Beziehung gesetzt wird:
Eine Äußerung im primären Modus wird auf direktem Wege, sozusagen unmittelbar, mit den relevanten Propositionen der Realitätskonzeption verglichen und auf ihre Realitätskonsistenz bzw. –inkonsistenz überprüft. Äußerungen im sekundären Modus – z.B. Kunstwerke – werden dagegen nach der Anwendung von Übersetzungs- und Transformationsregeln mit den entsprechenden Propositionen der Realitätskonzeption verglichen.
Für die (kulturrelative) Bestimmung des Modus einer Äußerung sind Faktoren wie Äußerungstyp (z.B. wissenschaftliche Arbeit oder literarischer Text), die Person des Produzenten der Äußerung (z.B. anerkannter Wissenschaftler oder Scharlatan) und der mediale Kontext der Äußerung (z.B. wissenschaftlicher Kongress oder TV-Unterhaltungsshow) von Bedeutung.“ (Müller/Sottong 1993: 66)
Äußerungen eines Nachrichtensprechers werden anders verstanden und bewertet als die eines Kabarettisten, ein Sachbuch anders als ein Roman, die Äußerung eines Künstlers anders als die eines Politikers.
„In der Regel wird in konkreten Kommunikationssituationen der primäre Modus nicht explizit angegeben. Er ist der Modus der meisten Äußerungen, und wird daher aus Gründen der Ökonomie meist weggelassen, wenn keine Gefahr einer falschen Modus-Zuordnung gegeben ist… Der sekundäre Modus dagegen wird oft durch einen Designator signalisiert.“ (Müller/Sottong 1993: 62)
Ein derartiger Designator ist im Falle der Documenta 11 ihr Status als Kunstausstellung. Der Modus „Kunst“ bestimmt, wie wir mit entsprechend „gerahmten“ (Goffman 1980) Gegenständen und Erscheinungen – den Kunstwerken – umgehen, wie wir uns in Ausstellungen bewegen, wie wir sprechen, nachdenken und uns konzentrieren. In dem Moment, in dem wir unsere Eintrittskarten kaufen und mit ihnen die Schwellen zu den Ausstellungsräumen überschreiten, treten wir sozusagen in den Modus „Kunst“ ein und betrachten die Exponate als Kunstwerke. Der Kunstmodus, wie wir ihn heute kennen, hat sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts herausgebildet. Das Besondere und Neue daran ist, dass es nicht die eine und einzig richtige Deutung gibt, sondern mehrere nebeneinander möglich sind. Seitdem war die Kunst und der Diskurs über sie vor allem von ästhetischen Fragestellungen bestimmt. Die Diskussionen drehten sich um Fragen der ästhetischen bzw. formalen Umsetzung der Ideen, um den Grad der Innovation und ähnliches. Das hat sich in der letzten Zeit geändert.
Der Modus Kunst fordert: Kunst ist wichtig und wertvoll; ihr gebührt deshalb entsprechende Aufmerksamkeit. Letztlich geht die Erfindung des modernen Kunstbegriffs und die besondere Wertschätzung, die wir der Kunst zuschreiben, auf Kant zurück (Vilks 2001). Werbung rezipieren wir ebenfalls im sekundären Modus. Ihr wird allerdings bisher in der Regel kein besonderer kultureller Wert zugeschrieben.
Moduswechsel
Marcel Duchamp hat gezeigt, dass Künstler so gut wie alles in den Modus „Kunst“ stellen können; und es hat sich gezeigt, dass wir Rezipienten bereit und in der Lage sind, diesem „Moduswechsel“ zu folgen und diese Gegenstände und Phänomene als Kunst zu betrachten. Gebrauchsgegenstände werden ausgestellt und so als Kunst verwendet; aus einem Stück Sanitärporzellan wird ein Äußerung. Dazu ausführlich Uli Schuster „Ungewöhnlich: Wie wird ein gewöhnliches Ding zur Kunst?“
Viele Exponate der Documenta 11 sind an sich Äußerungen, es sind oft Dokumentationen und stehen damit dem allgemeinen Verständnis nach im primären Modus. Sie stammen allerdings nicht von Journalisten oder Wissenschaftlern, sondern von Künstlern. Und Künstler machen Kunst, ihre Arbeiten werden in Kunstausstellungen ausgestellt, im sekundären Modus. Viele Künstler spielen mit Unprofessionalität. Sie bestimmt einen Teil des gezeigten Filmmaterials, es lässt dieses authentischer erscheinen; auch das Fehlen des allwissenden Kommentators aus dem Off unterstreicht dies und signalisiert außerdem „Kunst“, in dem Sinne, dass der Betrachter nicht bevormundet wird. Wie in der ästhetischen Kunst überlässt man ihm mehr oder weniger die Deutung des Gezeigten.
Diesen Moduswechsel von Dokumentationen über Fragen politischer Macht und struktureller Gewalt zu Werken der Kunst mitzumachen und vor allem ihn während des Ausstellungsbesuchs aufrechtzuerhalten, ist freilich im Falle der Documenta 11 oft nicht ganz leicht. Es ist mühsam und unangemessen, die Dokumentation über das Ertrinken illegaler Einwanderer im Mittelmeer [Multiplicity, Solid Sea, 2002 im Kulturbahnhof] mit den üblichen Sehweisen als ein Kunstwerk zu betrachten und sie mit kunsttypischen Sprechweisen zu kritisieren. Die Videoinstallation springt einem beim Anschauen aus dem sekundären Kunstmodus in den primären Dokumentations- bzw. Journalismusmodus, sie handelt schließlich vom Tod hunderter von Menschen und ich – der Betrachter – bin irgendwie Teil des Problems. Es braucht schon einen ziemlichen Zynismus, um diese Arbeit im sekundären Modus zu betrachten. Weg- und weiterzappen gelingt nicht, denn diese Dokumentation tritt im Kunstsystem in Erscheinung, einem System, das Aufmerksamkeit fordert, und nicht im Fernsehen, wo Weiterschalten normal ist. Auf der Documenta treffen zwei Bereiche aufeinander, die beide auf unterschiedliche Weise ihren Anspruch auf Relevanz erheben. – Kunst präsentiert sich spätestens seit Kant als eigener Weg der Erkenntnis und gilt als wichtig und wertvoll. – Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Welt sind relevant, weil sie uns als Menschheit betreffen.
Und: In der Öffentlichkeit einer Ausstellung kontrollieren sich die Besucher gegenseitig bei der Rezeption. Wer schaut was wie lange und wie konzentriert an? Wer ignoriert was?
Moduscrossing
Dies gilt bei weitem nicht für alle Exponate: Hanne Darbovens Schreibquälereien, On Kawaras Jahreszahlenreihen oder die konstruierten Fotografien von Jeff Wall sind im sekundären Modus entstanden bzw. beabsichtigt und verteidigen diesen ohne Schwierigkeiten.
Wie schwierig es im Allgemeinen für Künstler ist, vom Kunstmodus in den primären Modus zu wechseln zeigt sich am Schicksal von J. Beuys, am schönsten vielleicht an seinem in der Edition-Staeck als Postkarte verlegten Blatt „hiermit trete ich aus der Kunst aus! Joseph Beuys“. Das Kunstsystem hat seine Austrittserklärung nicht angenommen, es deutet die Unterschrift als Signatur.
Zwischen den beiden Polen einer „reinen“ Kunst in der Tradition der Moderne des 20. Jahrhunderts einerseits und der politischen Dokumentation andererseits gibt es in der Documenta 11 alle möglichen Abstufungen. Oft ist es schwer zu bestimmen, in welchem Modus die einzelnen Arbeiten entstanden sind und wie sie gesehen werden sollen. Vor jeder Arbeit muss neu entschieden werden, wie sie zu betrachten ist bzw. betrachtet werden will. Ein und die selbe Arbeit kann unter zwei verschiedenen Modi gesehen und damit jeweils anders verstanden werden.
Wissen
Die Kunst des letzten Jahrhunderts verstand sich für den Kenner mehr oder weniger von selbst. Die Kunst war geprägt vom Konzept des offenen Kunstwerks (U. Eco). Dieses sieht nicht nur eine richtige Interpretation, sondern einen mehr oder weniger breiten Korridor möglicher Interpretationen vor; letztlich bestimmt der Rezipient, wann und wie er ein Kunstwerk verstanden hat. Er bestimmt auch, wie weit er in seinen Interpretationsbemühungen gehen will. Die meisten Arbeiten der Kunst des 20. Jahrhunderts hatten einen spielerischen und experimentellen Charakter, entsprechend spielerisch und „offen“ kann sich ihre Rezeption geben. In der Documenta 11 reicht das übliche Kunstverständnis hinten und vorne nicht. Um zu verstehen, worum es jeweils geht, muss man viel lesen und entsprechendes außerkünstlerisches Wissen aktivieren.
Äußerungen im primären Modus können entweder richtig oder falsch verstanden werden – mit der Realität als Kontrollorgan. Viele der Arbeiten in der Documenta 11 kommunizieren, dass es sich nicht einfach um subjektivistische, experimentelle oder spielerische Äußerungen handelt, die einer so oder auch anders sehen kann, sondern dass es Botschaften sind, die zurecht intersubjektive Gültigkeit beanspruchen. Die dokumentarischen Arbeiten kommunizieren als solche mit, dass man sie „richtig“ verstehen kann und der Korridor möglicher Interpretationen schmal ist. Wer sie als offene Kunstwerke versteht liegt falsch.
Die Beschriftungen der einzelnen Arbeiten sind zudem so sparsam, dass sie wenig dazu beitragen, die Arbeiten besser zu verstehen. Mehrfach wurde die geringe Besucherfreundlichkeit der Documenta 11 beklagt. Die Beschriftung hilft immerhin, die entsprechenden Stellen im (nicht immer aktuellen) Kurzführer zu finden, ohne den man ziemlich verloren ist. Er kostet 15.-€. Den Besucherinnen und Besuchern wird hinten und vorn deutlich gezeigt, dass sie viel zu wenig wissen.
Zeit
Die subjektive Herangehensweise und die mediale Dominanz des Bildes hat in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts eine eigene Form der Rezeption entstehen lassen: die Selbstbestimmung über Verweildauer und Aufmerksamkeit, das Schlendern in den Ausstellungen, die kritische Distanz des Kenners &c. Paradigmen für diese Rezeptionshaltung sind Malereien und Plastiken. Die vielen Beamer der Documenta 11 lassen diese Haltung nicht mehr so recht gelingen, sie versuchen mit den projizierten Videos über die Zeit der Besucher zu bestimmen. In die Videos kann man sich nicht leicht an einer beliebigen Stelle hinein- und wieder hinauszappen, zu offensichtlich erzählen sie eine Geschichte bzw. berichten über Zusammenhänge, die sich nur in einem längeren Zusammenhang erschließen.
Die meisten Besucher planen für einen Documenta-Besuch einen oder höchstens zwei Tage ein, in dieser Zeit kann man unmöglich allen Videos und Fotodokumentationen gerecht werden. Das Lesen der nötigen Informationen im Kurzführer braucht auch noch seine Zeit. (Darüber freut sich vielleicht die Gastronomie von Kassel und Umgebung.) Zeitdruck entsteht und wird spürbar. Man muss auswählen unter wichtigen Geschichten und Botschaften, eine Geschichte aus dem Mittelmeer gegen eine aus Afrika oder Mittelamerika abwägen, und man weiß nie, ob man sich richtig entschieden hat … Entscheidungsdruck wird bewusst.
Gewissen
Diesen Anforderungen kann man beim besten Willen nicht gerecht werden. Das erinnert an die unerfüllbaren moralisch-ethischen Forderungen, die viele Religionen an ihre Mitglieder stellen mit der Folge, dass alle immer arme Sünder sind… Und noch was erinnert an das Gebaren von Religionen: Wie der Süddeutschen Zeitung Nr. 183 vom 8. August 2002 (S.11) zu entnehmen ist, erlaubt die Documenta-Leitung nur Führungen durch eigenes Personal.
In unseren Gotteshäusern predigen nur unsere Leute.
Zurück bleibt wohl bei vielen Besucherinnen und Besuchern ein schlechtes Gewissen, sich für das eine Problem und damit gegen das andere entschieden zu haben oder gänzlich oberflächlich durch die Ausstellung gegangen zu sein, der Eindruck, viel zu wenig über die Welt zu wissen, und die Überzeugung, dass es nix zu lachen gibt. Dies erreicht die Documenta 11, indem sie strukturelle Gewalt ausübt durch Moduscrossing, durch die Erzeugung des Gefühls von Nichtwissen, durch Zeitdruck und damit durch Entscheidungsdruck. Die konstatierte geringe Besucherfreundlichkeit erscheint in diesem Licht wohl kalkuliert und wesentliches Element der Inszenierung.
Die Documenta 11 als Gegengewalt zur Sicht der Welt in den (westlichen) Medien und damit als ein gelungenes Unternehmen.
Wie wird der Kunstmodus dadurch verändert?
Anregungen für den Kunstunterricht:
Durch welche Eingriffe und Manipulationen lässt sich ein Fernsehdokumentarfilm in den Kunstkontext überführen, was passiert mit der ursprünglichen Botschaft?
Wie lässt sich ein Kunstwerk in den primären Modus transformieren?
Empfehlung zu diesem Themenkreis Wolfgang Ullrich „Gegen den Kanon“ Vortrag 2018 in München
Literatur
– Documenta 11_Plattform 5: Ausstellung/Kurzführer, (hrsg. documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH), Ostfildern 2002
– Goffman, Erving: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. Main 1980
– Müller, Michael /Sottong, Hermann, Der symbolische Rausch und der Kode, Tübingen 1993
– Vilks Lars, Det konstnärliga uppdraget? Nora 2001
Franz Billmayer, August 2002. Überarbeitet im Mai 2021