http://www.madonnainn.com/

Die Eingangssituation in das Hotel (kolorierte Zeichnung)

Das Madonna Inn liegt auf halbem Weg zwischen San Francisco und Los Angeles. Wenn die Reisenden in der Rezeption nach einem Zimmer fragen, bekommen sie ein Fotoalbum mit Abbildungen der einzelnen freien Zimmer und den entsprechenden Preisen vorgelegt. Jetzt haben sie die Qual der Wahl. Dieses Album gibt es auch online.
Das Madonna Inn ist ein Hotel mit weit mehr als 100 Themenzimmern. Offensichtlich verbringen die Gäste in den Zimmern vor allem die Wochenenden – was sich an den deutlich hörheren Preisen zeigt – Essen, Trinken, Lieben … in einen entsprechenden Interpretationsrahmen gestellt: Steinzeitmenschen, Österreichtouristen, Großwildjäger …

Hyperrealität durch diskrete Wahrnehmungsgegenstände

Umberto Eco verwendet in seinen Essays über die Imitationsindustrie (1985, S. 36 – 101) in den USA den Begriff Hyperrealität. Er versteht darunter, dass die Nachahmung wirklicher als die Wirklichkeit ist. Bei den Themenzimmern und den Themenhotels etwa in Las Vegas wird das u. a. dadurch erreicht, dass pro Flächeneinheit mehr unterscheidbare Wahrnehmungsgegenstände zu finden sind, als in der Realität.

Hyperrealität durch Interpretation

Die Ausstattung von Themenzimmern und -hotels ist zeichenhaft. Wir wissen das und sehen die Einrichtung nicht nur als Einrichtung sondern auch als Zeichen im Rahmen des jeweiligen Themas. Ein Stuhl in einem Themenhotel ist ein Stuhl, auf den man sich setzt. Im Themenhotel ist er zudem ein Zeichen für das Thema. Wir beurteilen ihn zusätzlich im Hinblick auf das Thema als mehr oder weniger gelungen. Wir nehmen wahr und interpretieren die Wahrnehmung. Eine enorme Steigerung der Wahrnehmung – wenn Wirklichkeit Wahrnehmung und Wahrnehmung Interpretation ist, kommt es auch dadurch zu einer übersteigerten Realität.

Erlebnisrationalität

Ein Begriff von Gerhard Schulze. Sinn und Ziel des Lebens in modernen Gesellschaften ist das Erlebnis im Rahmen des Projekts des schönen Lebens. (Erlebnisgesellschaft) Erlebnisse sind das Ergebnis von Wahrnehmung und deren Interpretation. Um entsprechende Erlebnisse zu erreichen, betreiben wir Situationsmanagement. Wir arrangieren Wahrnehmungsangebot für unsere Sinne, in der Hoffnung, dass sich über die Wahrnehmung das entsprechende Erlebnis einstellt. Dabei haben wir mehr Möglichkeiten als Lebenszeit und wir wissen von diesen Möglichkeiten. Wenn wir in Venedig sind, denken wir, ob es nicht in den Alpen oder in New York besser wäre … Künstliche Erlebniswelten wollen uns diese Probleme vom Leib halten, indem sie räumlich nahe verschiedene Situationen anbieten.

Sicherheitshalber wählen wir Situationen, die reich an Eindrücken und Reizen ist. Reichhaltige Oberflächen, kleinteilige historische Innenstädte, abwechslungsreiche Landschaften, Skihotels mit mediterranen Badelandschaften, …

Auch Einkaufszentren arbeiten mit Hyperrealität.

Hotelbar im Hotel Tirol in Ischgl

Umberto Eco über Madonna Inn

„Die dürftigen Worte der menschlichen Sprache reichen nicht aus, um Madonna Inn zu beschreiben. Um den Anblick der Bauten wiederzugeben, die man erreicht, wenn man eine in dolo­mitischen Fels gehauene Tankstelle hinter sich hat, um das Re­staurant, die Bar, die Cafeteria zu schildern, kann man nur einige tastende, ungefähre Vergleiche wagen. Sagen wir, Albert Speer oder Piacentini hätten beim Blättern in einem Buch über Gaudi eine zu starke Dosis LSD geschluckt und sich plötzlich vorgenom­men, eine Hochzeitsgrotte für Liza Minelli zu bauen. Aber das trifft es noch nicht. Sagen wir, Arcimboldi ersinnt für Heino eine Sagrada Familia. Oder Carmen Miranda entwirft für McDo­nald’s ein Lokal a la Tiffany. Oder auch: D’Annunzios Vittoriale am Gardasee (oder Ludwigs des »Kini« Neuschwanstein im All­gäu), imaginiert von Louis de Funes, Calvinos »Unsichtbare Städte«, beschrieben von Sandra Paretti und realisiert von Leonor Fini für das Oktoberfest, Chopins b-Moll-Sonate, gesungen von Karel Gott nach einem Arrangement von Liberace und gespielt von der Feuerwehrkapelle zu Hintertupfingen… Aber das trifft es noch immer nicht ganz. Versuchen wir, die Toiletten zu schil­dern. Eine riesige unterirdische Höhle, halb Altamira, halb Adels­berg, mit byzantinischen Säulchen, auf denen barocke Gips­putten stehen. Die Waschbecken große Perlmuschelschalen, das Pissoir ein in den Fels gehauener Kamin, doch wenn der Urin­strahl (Entschuldigung, aber man muß das erklären) den Boden berührt, entquillt den Wänden der Rauchkappe Wasser und schießt in Kaskaden hernieder, als wär’s die Spülung in den Höhlen des Affenplaneten Mongo.

Herrentoilette im Madonna Inn

Im Erdgeschoß dann, vor einem Panorama aus Tiroler Berghütten und Renaissance­Schlößchen, eine Flut von Lüstern in Form von Blumenkörben, Misteltrauben, aus denen opalisierende, veilchenblaue und matt­gelbe Glaskugeln wachsen, umschaukelt von viktorianischen Püppchen. Die Wände durchbrochen von Jugendstilfenstern in Chartres-Farben, dazwischen Regency-Tapisserien im Stil des sozialistischen Realismus der frühen Jahre. Die runden Sofas golden und pink, die Tische aus Gold und Glas, das Ganze eine verwegene Mischung aus farbenprächtiger Eisbombe, Praliné-schachtel, Sahnetorte und Knusperland für Hänsel und Gretel.
Alsdann die Zimmer, etwa zweihundert an der Zahl, jedes mit einem anderen Charakter. Zu einem mäßigen Preis (und mit einem Riesenbett – King’s oder Queen’s Bed – für Hochzeitsrei­sende) erhält man das Prähistorische Zimmer (ganz Tropfstein­höhle), den Safari Room (ganz in Zebra tapeziert, mit einem Bett in Form eines Bantu-Götzen), das Hawaii-Zimmer, die Califor­nia Poppy, den Old Fashioned Honeymoon, den Irischen Hügel, den Stürmischen Gipfel, den William Tell, den Tall and Short Room (für Eheleute von unterschiedlicher Größe, mit einem unregelmäßig polygonen Bett), den Wasserfall an der Felsen­wand, den Imperial Room, die Alte Holländische Mühle oder das Schlafzimmer mit Karussell-Effekt.
Madonna Inn ist das Hearst Castle der kleinen Leute, es hat keine künstlerischen oder philologischen Ambitionen, es appel­liert an den wilden Geschmack am Verblüffenden, am Vollge­stopften und absolut Prächtigen zu geringem Preis. Es verheißt den Besuchern: »Auch ihr könnt das Unglaubliche haben, genau wie die Millionäre!«
Eco, U. (1985). Über Gott und die Welt.  (2. Aufl. Aufl.)München: Hanser. S. 60 f

Bauerndorf von Marie Antoinette in Versailles

Marie-Antoinette die Königin von Frankreich hat sich im Park von Versailles ein Bauerndorf bauen lassen. Das Bild links zeigt die Mühle – ein frühes Beispiel für einen Themenpark im Rokoko.

Beispiele für Themenhotels in Las Vegas.

Übungen

Nehmen Sie sich einzelne Themenzimmer vor und benennen Sie das Thementypische.
Schauen Sie sich in der Übersicht von Madonna Inn die einzelnen Themen an, ohne auf die Bilder weiterzuklicken und überlegen Sie, wie das Zimmer ausschauen könnte.
Entwickeln und gestalten Sie Zimmer nach einem selbst gewählten Thema. Gestaltung: zeichnerisch, Modell, CAD, Collagen, verwenden Sie auch Materialproben, suchen Sie nach Accessoires in Baumärkten, Geschenkeläden &c.

Literatur

Umberto Eco (1985). Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser, München 1985
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft : Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. : Campus, 1992

Franz Billmayer, erst veröffentlicht am 22. November 2006