Franz Billmayer

erschienen in KUNST+UNTERRICHT 423-424, 2018. S. 91-92

Mit der Digitalisierung ist die visuelle Seite der Kommunikation zu einer Kulturtechnik geworden. Hier geht es um die Frage, warum die Kunstpädagogik diese Herausforderung ignoriert.

Der pictorial turn ist bei jedermann angekommen. Es gibt fast so viele Mobiltelefonanschlüsse (6,8 Mrd.) wie Menschen. 2019 wird es 5. Mrd. Mobiltelefonnutzer geben. 2020 werden weltweit knapp 2,9 Mrd. Smartphones nutzen. 2017 haben in Deutschland 69% der Bevölkerung Smartphones genutzt. Alle Geräte haben Kameras. Bilder lassen sich machen, verschicken und empfangen. 2015 wurden täglich auf sozialen Medien 3,2 Mrd. Fotos geteilt. 2016 gab es weltweit 2,6 Mrd. Online-Spieler. Wolfgang Ullrich schreibt hier von Bildersozialismus (Ullrich 2017)⁠.

Auch bei Texten sind Produktions- und Distributionsmittel in den Händen aller. Professionelle Fähigkeiten braucht es kaum noch. Sekretär*innen gestalten Flyer, Eltern Einladungskarten für Kindergeburtstage. Salesmanager präsentieren mit PowerPoint und Prezi.

Dabei sind sie von enormen Wahlmöglichkeiten gefordert: Bildauswahl, Schriftarten, -schnitte und -größen, Einteilung der Fläche, der RGB-Farbraum. Die visuellen Gestaltungsressourcen sind riesig.

DTP hat die visuelle Kommunikation zu einer Kulturtechnik und damit zu einer Herausforderung für die Schule gemacht (Billmayer 2015)⁠. Zur Orientierung braucht es für den Unterricht Regeln, die sich lernen lassen. Ähnlich war es, als mit dem Buchdruck Lesen und Schreiben Kulturtechniken wurden. Die Regeln der Sprache wurden in Grammatiken zusammengefasst. Wie so etwas für die visuelle Kommunikation ausschaut, ist eine spannende Frage. Erst allmählich entwickeln sich Orientierungshilfen wie: zwei, maximal drei Schriftarten verwenden, Unterstreichungen vermeiden. Das meist implizite professionelle Wissen muss explizit werden.

Wie reagiert die Kunstpädagogik?

Die Schule reagiert nur langsam auf diese Entwicklung, der Kunstunterricht stellt sich vorsorglich tot. Das zeigt ein Blick in aktuelle Schulbücher und Fachzeitschriften. Eine Ausnahme macht „Informieren und Präsentieren“ von Kunst+Unterricht (K+U 401/402 | 2016). Die vorgeschlagenen praktischen Aufgaben haben sich allerdings noch kaum aus dem Umfeld der Schulkunst gelöst. Das liegt einmal daran, dass die Aufgaben meist handwerklich bearbeitet werden. Aber auch die gestellten Probleme hinterlassen diesen Eindruck. Die Aufgaben zum Layout (S. 45-47) bleiben auf der formalen Ebene. Der Entwurf eines Piktogramms erinnert mich an Aufgaben zur Abstraktion. Dazu kommen Informationsgrafiken und Plakate. So wie im Kunstunterricht oft Künstler nachgespielt werden, dienen hier Grafiker oder Ausstellungsmacher als Vorbilder.

Bildung versus Ausbildung

Die Kunstpädagogik, die für Bilder und andere visuelle Gestaltungen zuständig ist, nutzt diese Chance nicht, ja sie scheint sie sogar zu fürchten. Das ist erklärungsbedürftig.

Carl-Peter Buschkühle sieht in der Kompetenzorientierung ein grundsätzliches Problem.

Wenn der relevante Maßstab für Bildungsinhalte der Kompetenzerwerb für Alltagssituationen ist, geht es nur noch um pragmatische Anwendungen, ist das oberste Ziel Praxistauglichkeit. Das Bildungsverhältnis wird damit umgedreht: Es stehen nicht mehr Wissen und Ideen im Vordergrund, die in die Lage versetzen, die Wirklichkeit zu beurteilen und zu verändern, sondern die Ausbildung von flexibel einsetzbaren Fähigkeiten […].

Das Individuum wird an die Verhältnisse anpasst, um diese zu bedienen, so seine Befürchtung. Dabei ginge es „weniger um Kompetenzen für den Alltag als um solche für eine erfolgreiche Konkurrenz im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften“ (Buschkühle 2017, S.32f).⁠

Bettina Uhlig lehnt einen „engen“ Kompetenzbegriff ab.

Ihm kann ein weites Kompetenzverständnis auf der Grundlage eines humanistischen Bildungsverständnisses entgegen gehalten werden. Denn das englische Wort competence bezieht sich einerseits auf die allgemeinen Fähigkeiten (the ability to do something well) und andererseits auf die konkreten Fähigkeiten (professional technical competences). Die allgemeinen Fähigkeiten, etwas gut oder gelingend zu tun, zielen nicht auf einen abprüfbaren Lernzuwachs. Vielmehr geht es dabei um die Komplexität menschlicher Fähigkeiten sowie um die Offenheit der Anwendungsbezüge im Rahmen menschlicher Lebenspraxis. […] Kompetenzen lassen sich nicht quantifizieren, sondern allenfalls in ihrer Qualität beschreiben. Es geht nicht darum, ob man sie erworben hat oder nicht, sondern vielmehr welche Qualität sie […] aufweisen. (Uhlig u.a. 2017, S.23)

Pierangelo Maset und Jochen Krautz lehnen die Orientierung an Kompetenzen unter anderem mit dem Hinweis darauf ab, sie gingen auf die Initiative der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) zurück. Diese Herkunft macht sie verdächtig dafür, wirtschaftlichen Zielen zu dienen und die Heranwachsenden für die Wirtschaft tauglich zu machen (Billmayer 2018)⁠.

Die Demarkationslinie zwischen guter – weil zweckfreier (?) – Bildung und zumindest verdächtiger – weil verwertbarer – Ausbildung gilt auch für andere kunstpädagogische Richtungen, zumindest implizit. Rolf Niehoff hat schon vor zehn Jahren Bildkompetenzen formuliert. Es geht ihm dabei um „[d]ie Vermittlung von Kompetenzen, die ein qualifiziertes Umgehen mit Bildern, das Verstehen von ihren Eigenarten, Zusammenhängen und Wirkungen möglich machen […]“ (Niehoff 2008, S.152). Es geht ihm vor allem um das Verstehen. Dazu ist für ihn und noch mehr für Kunibert Bering historisches Wissen zentral (vgl. etwa Bering 2009)⁠. Torsten Meyer will Schülerinnen und Schüler zum kreativen Hacking der herrschenden Kultur anleiten oder besser anstiften. Damit cultural hacking gelingt, braucht es ein tiefgehendes Verständnis für die Bedeutung der Medien für die Konstruktion von Kultur. Hier geht es um eine allgemeine kritisch und humorvolle Beschäftigung mit der Welt (Meyer, 2018). Es geht ihm genauso wie Bering und Niehoff nicht um konkrete Handlungskompetenzen im Sinne von Kommunikation.

Mentale Buchführung

Die Gründe dafür liegen wohl in der Tradition des modernen Kunstbegriffs, wie er sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts quasi als Kunstreligion (Ullrich 2011, ähnlich Vilks)⁠ entwickelt hat. In Anlehnung dazu hat sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Kunsterziehung konstituiert. Sie hat mit der Kunst die Idee der Zweckfreiheit in ihr Glaubensbekenntnis übernommen.

Die Idee der zweckfreien Bildung durch Kunst hält allerdings einer empirischen Überprüfung nicht statt. Wie Bernard Darras gezeigt hat, bereitete „Kunstpädagogik“ schon in der Antike auf die Freizeitbeschäftigungen der Aristokraten vor. Wer sich unter diesen „wenigen“ behaupten wollte, musste entsprechend gebildet sein. Auch dem Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts diente der (künstlerische) Geschmack als sicheres Distinktionsmittel, um sich von neureichen Emporkömmlingen abzusetzen. Die aus der Kunstpädagogik gewonnene Bildung war eine der Voraussetzungen, um sich in der wirtschaftlichen und administrativen Elite behaupten zu können, und damit keineswegs zweck- oder wertfrei (Darras 2015).

Die Kunstpädagogik hat in den letzten 100 Jahren viel Zeit und Energie in die Begründung ihres Metiers aus dem Geist der Zweckfreiheit gesteckt. Ihre besten und gescheitesten Protagonisten haben in unzähligen Vorträgen, Artikeln und Büchern dafür argumentiert und gekämpft. Praktiker haben mit ebenso viel Energie Unterrichtsideen in diesem Sinne entwickelt und verwirklicht. Vielleicht tut sich die Kunstpädagogik deshalb so schwer, pragmatische Aspekte in ihr Programm aufzunehmen. Daniel Kahneman hat dieses Verhalten als mentale Buchführung beschrieben. Wer viel in ein aussichtsloses Projekt investiert hat, investiert lieber noch mehr, als sich den Verlust einzugestehen (Kahneman 2012, S.409 ff)⁠.

Künstliche Intelligenz

Die digitalen Apparate werden intelligenter. Schon lange erkennen Kameras Gesichter und stellen darauf scharf. Anwendungen verbessern die Bildqualität automatisch. Für Websites gibt es Vorlagen für alle Gelegenheiten. Dank deren künstlicher Intelligenz werden die Nutzer bald keine visuellen Kompetenzen mehr brauchen.

… und die Kunstpädagogik kämpft weiter für zweckfreie künstlerische Bildung als immaterielles Weltkulturerbe, auch weil die Kunst sich längst schon verändert hat (Ullrich 2016)⁠.

Literatur

Bering, Kunibert: Kulissen und Visionen. Die Konstruktion von Bildern durch Architektur. In Bering, Kunibert/Niehoff, Rolf (Hg.): Bildkompetenz(en) – Beiträge des Kunstunterrichts zur Bildung. Oberhausen 2009, S. 99 – 123

Billmayer, Franz: Multimodale Kommunikation – eine neue Kulturtechnik. In T. Meyer & G. Kolb (Hg.): what’s next? Art Education. München 2015, S. 44 – 47

Billmayer, Franz: Dem einen sein Uhl ist dem anderen sein Nachtigall. Bemerkungen zur Diskussion über Kompetenzen in der Kunstpädagogik. BDK-Mitteilungen, 2/2018.

Buschkühle, Claus-Peter: Künstlerische Bildung. Theorie und Praxis einer künstlerischen Kunstpädagogik. Oberhausen 2017.

Darras, Bernard: Values of Arts and Cultural Education. In B. van Heusden & P. Gielen (Hg.): Arts Education Beyond Art – Teaching Art in the Times of Change. Amsterdam 2015, S. 57 – 75.

Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012.

Meyer, Torsten: Cultural Hacking als Kulturtechnik? In S. Baden, C. Bauer, & D. Hornuff (Hg.): Formen der Kulturkritik. München 2018, S. 157–176

Niehoff, Rolf: Bildung – Bildkultur – Bildkompetenzen. Zu einer wesentlichen kunstpädagogischen Bildungsaufgabe. In Billmayer, Franz (Hg.): Angeboten. München 2008, S. 149 – 156

Uhlig, Bettina u.a. (Hg.): Handout zur Planung von Kunstunterricht. Planen mit dem „Hildesheimer Modell“ (IMAGO.Praxis.). München 2017.

Ullrich, Wolfgang: An die Kunst glauben. Berlin 2011.

Ullrich, Wolfgang: Siegerkunst Neuer Adel, teure Lust. Berlin 2016

Ullrich, Wolfgang: Bildersozialismus. In Loffredo, Anna Maria (Hg.): Transit Kunst/Universität. München 2017, S. 56–65, siehe auch https://ideenfreiheit.wordpress.com/2016/10/31/zwei-texte-ueber-bildersozialismus/

Internetquellen

https://qz.com/179897/more-people-around-the-world-have-cell-phones-than-ever-had-land-lines/

https://www.statista.com/statistics/330695/number-of-smartphone-users-worldwide/

https://www.statista.com/statistics/274774/forecast-of-mobile-phone-users-worldwide/

https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_smartphone_penetration#2017_rankings

https://www.kpcb.com/blog/2016-internet-trends-report, S. 90

https://www.kpcb.com/internet-trends/ S. 81

http://www.schriftarten-fonts.de/