die rhetorische Situation

In der Rhetorik stehen nicht der Text oder das Bild sondern die Situation im Zentrum der Überlegungen. Wir Menschen sind Pragmatiker und versuchen, uns dauernd an die Umgebung oder diese an uns anzupassen. Wir stehen vor der Frage, ob und wenn ja, was zu tun ist.

„Das Verständnis der Situation, καιρός, ist ein ganz zentrales Element in jeder rhetorischen Theorie. Das rhetorische Verständnis von Zeichen und Texten spielt sich deshalb zu aller erst innerhalb des unmittelbaren rhetorischen Kontextes ab.“ (Kjeldsen 2002, S.66)

Die rhetorische Situation wurde zum ersten Mal in Bitzer The Rhetorical Situation 1968 behandelt (nach Kjeldsen 2004, S.78f): gewisse Situationen sind von Mängeln, Herausforderungen oder Problemen bestimmt. Diese Situationen haben etwas an sich, das verlangt, dass jemand reagiert und versucht, die Situation zum Besseren zu wenden. Wenn dies teilweise oder ganz durch Kommunikation möglich ist, dann sprechen wir von einer rhetorischen Situation. Die Situation bestimmt den Rahmen, in dem der Redner handeln kann und muss. Bitzer nennt und beschreibt drei Elemente, die jede rhetorische Situationen beinhaltet:

das drängende Problem

muss nicht unbedingt immer problematisch sein und in der negativen Bedeutung verstanden werden. Das Problem muss so sein, dass es von anderen, dem Publikum, beeinflusst werden kann: die Tatsache, dass wir sterben oder dass die Nacht hereinbricht, ist ein Problem, aber es lässt sich nicht mit Hilfe von Kommunikation lösen. Viele Probleme lassen sich auch ohne Kommunikation lösen. Wenn es zieht, weil das Fenster offen steht, kann ich es zumachen oder einen anderen auffordern, es zu schließen.

das Publikum

muss in der Lage sein, das, was ihm mitgeteilt wird, zu verstehen und die Situation entsprechend zu beeinflussen. Rhetorische Beeinflussung schafft Veränderungen, indem sie versucht auf Gedanken, Einstellungen, Beschlüsse und Handlungen von solchen Personen einzuwirken, die an der Situation, also an dem drängenden Problem, etwas ändern können.
Für den Redner ist es wichtig, möglichst ein Publikum zu finden, das sich für die Lösung des Problems am besten eignet: es kann entsprechend handeln und es lässt sich überzeugen.
Probleme können im Publikum liegen – das Publikum hat Einstellungen, die geändert werden sollen – und sie können außerhalb liegen. Ein Problem kann auch darin liegen, dass eine Rede erwartet wird – etwa bei einer Beerdigung, einer Ausstellungseröffnung oder einem Geburtstag.
Die Aufgeschlossenheit für das Problem hängt vom Grad des Interesses ab. Dieser ist unter anderem davon abhängig, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt wird, dass die Fakten tatsächlich existieren oder dass sie eintreffen werden, und wie direkt und wahrscheinlich sie einen betreffen. Der Grad des Interesses steigt mit Nähe und Umfang des Problems und mit der persönlichen Betroffenheit. Eine Rolle spielt auch die Möglichkeit, etwas dagegen unternehmen zu können, ebenso wie das Risiko, das eingegangen werden muss. Weiter spielt eine Rolle, ob das Publikum sich verpflichtet fühlt und welche Erwartungen ihm entgegengebracht werden, ob es die entsprechenden Fähigkeiten hat und ob unmittelbar gehandelt werden muss.

die rhetorischen Bedingungen

sind die Möglichkeiten und Grenzen, die der Redner berücksichtigen muss. Dabei können wir zwischen nicht-rhetorischen und rhetorischen Bedingungen unterscheiden. Nicht-rhetorische sind Umstände, gegen die der Redner nichts unternehmen und zu denen er sich nur verhalten kann: Personen, Ereignisse, Gegenstände, Beziehungen, Regeln, Prinzipien, Gesetze, Bilder, Argumente und Konventionen.
Die rhetorischen Bedingungen werden dagegen vom Redner beeinflusst und von ihm und seiner rhetorischen Methode ins Spiel gebracht: persönlicher Charakter (Ethos), logische Beweismittel (Logos), sein Stil und die emotionellen Appelle (Pathos).
Wir können auch physische und kulturelle oder psychischen Bedingungen unterscheiden: Medien, Orte, Umweltverhältnisse, psychische und kulturelle Voraussetzungen.
Die rhetorische Situation ist vorbei, wenn das Problem gelöst ist.

Im Gegensatz dazu konzentrieren sich strukturalistische, semiotische und narratologische Untersuchungen in der Regel auf den Text oder in unserem Fall auf das Bild. Die Situation oder der Kontext werden nur dann in die Untersuchung miteinbezogen, wenn dies dazu dient, den Text zu verstehen. In der Kunstpädagogik werden Bilder, Skulpturen und Bauwerke in dieser Tradition betrachtet. Dahinter steckt die Idee, dass Kunst ein Erkenntnismittel eigener Art ist, und die daraus abgeleitete Idee, Kunstwerke als solche – also unabhängig von den Umständen – hätten wichtige Wahrheiten, Einsichten oder Erlebnisse anzubieten.

Unter einem rhetorischen Blickwinkel sind Bilder und Texte dagegen nur Mittel und Werkzeuge, um bestimmte Effekte zu erzielen.I
In der Kunstpädagogik wird die an der Kunst entwickelte Methode in aller Regel auch auf Bilder und Gestaltungen angewendet, die außerhalb der Kunst liegen und in der Regel als Alltagsästhetik bezeichnet werden.

Die bild- und textorientierte Betrachtung verschleiert die politischen Aspekte der Kommunikation, der Bildverwendung und auch der Kunst: nicht das Bild sondern die rhetorische Situation sollte der Ausgangspunkt eines kritischen Bildunterrichts sein

Literatur:
Kjeldsen, J. E. (2002). Visuel retorik. Bergen.
Kjeldsen, J. E. (2004). Rhetorik i var tid. Oslo: Spartacus Forlag AS.

Franz Billmayer
zuletzt geändert: 16.6. 2010

siehe auch:
Rhetorik in der Werbung (Bernbacher)
Bilder und Rhetorik
Bitte setzen – ein praktisches Beispiel visueller Rhetorik
Architektur rhetorisch betrachtet