von Franz Billmayer

Dieser Text ist ursprünglich 2016 erschienen in Martina Ide, Christine Korte-Beukers, Friederike Rückert (Hg.). Aktuelle Positionen der Kunstdidaktik. München: kopaed: S.161-171 und geht auf einen Vortrag vom 12. Juni 2015 zurück. Hier eine überarbeitete Version.

Egal, wie sich die Kunstpädagogik entscheidet, die Kunst wird gegenüber dem Bild den Kürzeren ziehen:

  • Die Kunstpädagogik orientiert sich weiterhin an ihrem Bestimmungswort „Kunst“. Dann werden sich die Deutschlehrer um Bilder im Allgemeinen und die visuelle Kommunikation im Besonderen kümmern. Das Schulfach Kunst wird zum Wahlfach, das sich den Kuchen mit anderen künstlerischen Fächern teilt.
  • Oder die Kunstpädagogik kümmert sich um die visuelle Seite der Kommunikation und die kulturell und politisch relevanten Bilder. Damit werden Methoden und Bilder der Kunst einen entsprechend kleinen Anteil am Unterricht haben. Aber das Fach bleibt im Kanon der Pflichtfächer.

Zukunft – Bildung als Investition

Mit der bürgerlichen Wirtschaftsweise werden Bildung und Ausbildung zu Investitionen. Inhalt und Methode des Unterrichts werden problematisch, weil sie im Hinblick auf die Zukunft befragt und ausgewählt werden. Welche Möglichkeiten und Probleme bieten sich in der Zukunft? Welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen braucht der Nachwuchs, um damit möglichst gut zurechtzukommen? Früher war das einfacher, die Älteren haben bewährtes Wissen und Können weitergegeben und weggelassen, was sich als unnütz oder falsch erwiesen hat. Die Nützlichkeit wurden dabei empirisch festgestellt. Investitionen sind dagegen spekulativ. Sie brauchen für die notwendigen Entscheidungen Annahmen von der Zukunft. Weil wir das Spiel schon eine Zeit betreiben, wissen wir, dass Zukunft anders verlaufen wird, als wir sie uns vorstellen. Zumal Bildung auf vergleichsweise lange Zeiträume ausgelegt ist. Die Idee von Investition und Zukunft zwingt uns zur Innovation. Der Unterricht wird methodisch und inhaltlich laufend an neue Ideen angepasst. Fachdidaktiker müssen sich vor diesem Hintergrund mit möglichen Zukünften befassen.

Die Idee der Investition begünstigt das Denken in Kompetenzen. Früher wurde eher in Besitz, also in Wissensbestände investiert. Die SchülerInnen haben Wissen erworben, um es zu bewahren und zu erweitern. Heute sind Wissen und Informationen wohlfeil. Tutorials bieten sie gratis, der Lohn ist die Aufmerksamkeit der Nutzer. Die Verfasser arbeiten oft unter Spitznamen und damit nur für Anerkennung im Internet. Wissen über traditionelle und digitale Medien und Techniken liegen förmlich überall auf der Hand des Smartphone-Users.

Die Idee der Bildung als Investition stellt notgedrungen die Frage nach Inhalt und Methode im Fach pragmatisch. Was bringen Inhalt und Methode für die Zukunft? Wie werden die nötigen Kompetenzen am effektivsten erworben? Dabei kann man von Mängeln oder von Möglichkeiten auf Seiten der Schüler ausgehen. Der Pflichtunterricht lässt sich aus meiner Sicht nur über den Mangel begründen.

Orientierung an der Zukunft ist unsicher und riskant

Obwohl wir wissen, dass die Zukunft langfristig anders wird wie angenommen, entscheiden und wählen wir anhand von Annahmen über diese. Viele gehen von der Disziplin, in unserem Fall von Kunst und Kunstpädagogik, aus. Sie sagen sich, „wenn wir eh nichts über die Zukunft wissen, dann können wir uns auf das traditionelle Wissen verlassen mit der Hoffnung, es wird schon was Brauchbares dabei sein“. Das wird die Bildungspolitik auf Dauer nicht akzeptieren. Beim pragmatischen Zugang wählt die Fachdidaktik aus den Möglichkeiten des Faches die Aspekte aus, die in der Zukunft sein werden relevant – bzw. von denen man annimmt, dass sie relevant sein werden. Bildungspolitisch und fachdidaktisch gesehen, muss auch das Beharren auf der Disziplin vor dem Hintergrund der Relevanz begründet werden.

Wer Schülerinnen und Schüler mit Themen und Inhalten beschäftigt, die sich schon zum Zeitpunkt des Unterrichts und erst recht später als irrelevant erweisen, betrügt sie um ihre Investitionen.

Von welcher Zukunft gehen wir aus? Wenn es zu keinen großen Katastrophen kommt, dann wird die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten leben. Werden es so genannten Slums oder hochtechnisierte und mediatisierte Städte wie Tokio oder Shanghai sein? Oder sind es Orte, die an jene in den Filmen Mad Max II und III erinnern?

Fach versus Kompetenzen

Ein Fach lässt sich von den Kompetenzen oder von der Disziplin her denken. Wenn wir in der Kunstpädagogik von der Disziplin also der Kunst ausgehen, besteht vor dem Hintergrund der vorherigen Feststellung ein hoher Argumentationsaufwand für die Begründung von Unterricht. Es setzt sich allenthalben die Auffassung durch, dass Kunst eine Szene unter vielen ist und dass sie keine sonderlich hohe Relevanz für sich beanspruchen kann. „International Contemporary“ – die zeitgenössische Kunst – dient als symbolischer Konsum und Investition den Reichen, deren Vermögen oft auf zweifelhafte Weise erworben werden (vgl. Siegerkunst von W. Ullrich). Wer Kunst als Investition versteht, lässt sie gern in den Bunkern der Zollfreilager aufbewahren. Dort werden die Werke dann auserlesenen Gästen gezeigt. Vor diesem Hintergrund hat Kunstvermittlung einen eigenartigen Beigeschmack. Sie betreibt Werbung für Luxusgüter, die den meisten für immer verschlossen bleiben müssen.

Diese Dekonstruktion der Kunst läuft in der Kunst selbst, in der Kunstwissenschaft und auch in der Soziologie, und sie lässt sich auch bei den Leuten innerhalb und außerhalb der Kunstwelt erkennen. Zudem besteht die Gefahr der Übernahme von kunstreligiösen Argumentationsfiguren aus der Kunstbegleitliteratur (vgl. IAE – International Art English von A. Rule und D. Levine) . Kunstreligiöse Aspekte lassen sich auch bei ELIA finden. Im Rahmen der Teachers Academy 2015 in Tilburg wurde etwa von einem Referenten vorgeschlagen, man solle die Studierenden ungewöhnlichen Situationen aussetzen – daraus entstünden dann Ideen für künstlerische Arbei
ten. Das erinnert an Meditationstechniken wie das Fasten, das religiöse Erfahrungen erleichtern soll.

Kunst und Bild

Die Kunst verliert – schon rein quantitativ – an Bedeutung. Die Bilder nehmen insgesamt zu, die Bildproduktion ist einfach und für jeden möglich, aber es nehmen auch solche Bilder zu, die ähnliche oder gleiche oder vielleicht sogar die selben Funktionen erfüllen wie Bilder, die bisher in der Kunst kontrolliert worden sind. Bilder wachsen quantitativ und qualitativ, das gilt auch für Visualität als solche, immer mehr Bereiche werden als visuelle Zeichen genutzt und deren Bedeutung differenziert sich aus. Die Produktion von Kunst kann da nicht mithalten. Wer sich unterhalten will, ist nicht auf Produkte von professionellen Künstlern angewiesen. Auf Youtube und anderen Internetportalen kann er unter einem überreichen Angebot für jeden Geschmack wählen. Und die vielen Bilder machen Bilder, die etwas konzentrieren, überflüssig. Das zeigt sich im reichen Schatz der Internetmemes ebenso wie in den aufwändigen und episch unglaublich langen und komplexen TV-Serien. Wenn die Bilder im Verhältnis zur Kunst zunehmen, sollte das über kurz oder lang auch in der Kunstpädagogik ankommen. Vermutlich wird auch die Kunst weiter an Motivationskraft unter potentiellen Kunstpädagogikstudenten verlieren. Wir sollten das Fach auch deshalb durch neue Inhalte attraktiver machen. Attraktivität kommt durch Wissen.

Kunst unter Druck

Kunst ist das, was die Kunstwelt (Danto), die Institution Kunst (Dickie) oder besser die Kunstszene als solche akzeptiert und nutzt. Nur diese Definition umfasst all das, was als heute als Kunst verwendet wird. Wie jede Szene ist die Kunst auf Orte (Museen, Ausstellungen), Rituale (Eröffnungen) und Kommunikationsmedien (Feuilleton, Kunstzeitschriften) angewiesen. Die Kunstszene kontrolliert dabei nicht nur, was als Kunst genutzt wird, sondern auch wie Kunst genutzt wird. Über Ausstellungen und Literatur kontrolliert sie Sicht- und Wahrnehmungsweisen. Wenn ihre Institutionen unter Druck geraten, wird es auch die Szene als solche erwischen. Ein Teil der Kunstwissenschaft hat das bereits erkannt und einen Umbau des Faches in Richtung Bildwissenschaften eingeleitet.

Die digitale Technik greift Kulturinstitutionen mit Hard- und Software an. Traditionelle Kulturinstitutionen lassen sich als Datenspeicher begreifen (Heidenreich, 1999). Kunstmuseen speichern Bilder, Orchester Musik und Schauspieler Texte und deren Aufführung. Weil bis vor kurzem Speicherplätze teuer waren, wurde der Zugang streng nach Qualitätskriterien kontrolliert, die Folge ein normativer Kunst- und Kulturbegriff. Umgekehrt gilt auch, was im Museum gezeigt und im Konzertsaal gespielt wird, steht kulturell weit oben. Nicht nur die Speichermedien (Gebäude) waren teuer, auch die menschliche Software. Die Ausbildung von Musikern, Schauspielern und bildenden Künstlern ist langwierig und teuer.

Die Kunst als Szene kontrolliert auch die Präsentation der kulturellen Produkte und steuert so die Art der Wahrnehmung

Heute sind Speicherplätze für Bilder, Musik, Texte und Filme billig. Die Produktionsmittel leicht zu bedienen und die Produkte leicht zu distribuieren. Websites wie youtube.com oder deviantart.com bieten ein umfangreiches Angebot. Reisen von der Peripherie in die Zentren sind keine Voraussetzung mehr für die Teilnahme. Mit den Möglichkeiten des Internets entstehen immer neue Kommunikations- und Diskursplattformen. Ästhetische Fragen durchdringen in den wohlhabenden Ländern mit ihren Konsumkulturen Arbeitswelt, Alltag und Freizeit.

Die Kunstszene hat die Kontrolle über Inhalte, Zugänge, Sichtweisen und Diskurse ästhetisch und kulturell genutzter Phänomene verloren.

Kunst ist eine Szene unter vielen. Empirisch gesehen kann sie keine privilegierten Zugänge zur Welt oder zu ästhetischen Erlebnissen und Erfahrungen für sich reklamieren. Ihr Anteil an der Produktion und Rezeption von Produkten, die ästhetisch oder symbolisch genutzt werden, hat in den letzten Jahrzehnten rapide abgenommen. Nicht deshalb, weil weniger Kunst produziert oder rezipiert wird, sondern weil andere Sektoren gewachsen sind und weiter wachsen. So wird schon allein quantitativ ihre Relevanz immer geringer.

Kunst verliert an Glaubwürdigkeit

Daneben schwindet ihre Relevanz auch qualitativ. Die Kunst verliert jene Form der Glaubwürdigkeit, auf der die Kunstpädagogik bisher aufgebaut wird. Hanno Rauterberg zeigt, dass sich der zeitgenössische Künstler vom selbstständigen Unternehmer zunehmend zu einem Auftragskünstler entwickelt (Rauterberg, 2015)⁠. Damit verliert die Kunst ihr Ideal der Autonomie und der Freiheit. Damit ist die Kunst auch nicht mehr länger die Gegenwelt zum herrschenden Mainstream. Sie dient den Zwecken von Superreichen und deren Firmen. Diese steigern als Kunstsammler soziales und kulturelles Ansehen und erhoffen sich daraus ein entsprechendes Prestige. Die Auftragskunst gilt aber auch für die großen Kunstevents wie Biennalen oder die documenta. Bei der letzten documenta wurden weit mehr als die Hälfte der gezeigten Arbeiten speziell für das Ereignis hergestellt.

Kunstpädagogik, die Kunstvermittlung für die zeitgenössische Kunst betreibt, macht Werbung für die Prestigeobjekte von Sammlern. Basis schulischer Kunstvermittlung ist die Annahme, Künstler verfügten über eine besondere Wachsamkeit, die auf ihrer Autonomie beruht. Damit sei Kunst ein privilegiertes Erkenntnisinstrument. Dieses Argument verliert an Kraft, wenn Kunst ähnlich entsteht wie andere Markenprodukte.

Kunstunterricht scheitert zwangsläufig

Kulturelles Verhalten dient der Kommunikation von Zusammengehörigkeit. Eine wesentliche Funktion ist damit die Exklusion derer, die nicht dazu gehören (sollen). „Bei der so genannten Hochkultur – hoch angesehen und hoch subventioniert – steht das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl aber in engem Zusammenhang zu den sozioökonomisch privilegierten Schichten. Es muss uns bewusst sein, dass die kulturellen Angebote sich sehr stark auf die Zielgruppen der (hochgebildeten) kulturellen Vielnutzer und der Nutzer mit spartenspezifischen Sonderinteressen gerichtet sind, die maximal 10% der Bevölkerung ausmachen“ (Glaser, 2014). In der Road Map for Arts Education der UNESCO-Weltkonferenz für kulturelle Bildung heißt es: „Kunst und Kultur sind unerlässliche Bestandteile einer umfassenden Bildung […]“ (UNESCO, 2006, S. 3). Ziel der Kunstpädagogik ist also die Ausweitung der zehn Prozent Nutzer auf hundert Prozent.

Allerdings: Wenn alle Kunst schätzen, dann hat sie dadurch etwas im westlichen Denken Wesentliches verloren. Sie ist – wie die Bilder des Impressionismus – Mainstream geworden. Gerade gegen diesen Mainstream aber tritt die Kunst an, indem sie von sich fordert oder behauptet, das Andere zu sein oder zumindest einen anderen Blick zu ermöglichen. Hier ist zweierlei theoretisch möglich:

  1. Die Kunst, wie wir sie heute kennen und wie sie die Kunstpädagogik als wertvoll beschreibt, wird durch die gelingende Kunstvermittlung nachhaltig verändert oder zerstört, eben weil sie als Mainstream nicht mehr den anderen Blick bietet, oder
  2. Die Kunst verteidigt die Distinktion durch Weiterentwicklung. Die Kunstpädagogik ist dann immer hinten dran, weil wieder nur einer kleinen Minderheit Zugang gewährt wird und die Mehrheit draußen bleibt. Der kunstpädagogische Hase rennt, aber der Kunst-Igel ist immer schon da.

So oder so scheitert der Kunstunterricht als Kunstvermittlung und erweist sich als Zeitdieb.

Interna

In der Kunst hat es, von der Kunstpädagogik unbemerkt oder ignoriert, einen Wechsel vom ästhetischen zum institutionellen Paradigma gegeben (Billmayer, 2008).⁠ Dieser Wechsel bedeutet: Der Kunstcharakter zeigt sich nicht mehr in der ästhetischen Qualität eines Werkes, sondern wird von der Institution Kunst (Kunstsystem, Kunstwelt) zugewiesen. Der Wechsel vom ästhetischen zum institutionellen Paradigma ist nach Beobachtungen des schwedischen Künstlers und Kunstwissenschaftlers Lars Vilks aus der Kunst heraus geschehen und von der Kunstwissenschaft und der Kunstszene akzeptiert worden (Vilks, 2001). Ich kenne ich keine Artikel der veröffentlichten deutschsprachigen Kunstpädagogik, die nach den Konsequenzen für den Kunstunterricht fragen. Kunst wird nach wie vor als ein ästhetisches Phänomen verstanden, die Kunsteigenschaft ontologisch am Werk festgemacht. Wolfgang Ullrich (Ullrich, 2004, 2007) und Christian Demand (Demand, 2003, 2007) haben auf verschiedenen kunstpädagogischen Veranstaltungen vorgetragen, aber so gut wie keine Spuren in der veröffentlichen Kunstpädagogik hinterlassen.

Derzeit wird viel von der postautonomen Kunst geschrieben. Die Kunst will und soll sich nützlich machen. Aber sie wird damit zur dilettierenden Sozialarbeit oder Pädagogik oder Politik (Rauterberg, 2015)⁠. Die gesellschaftskritische Kunst der letzten Jahrzehnte ist keine Folge einer veränderten Politik, sondern folgt aus der Sinn- und Legitimationskrise einer institutionellen Kunst, die sich vom ästhetischen Paradigma gelöst hat. Die engagierte Kunst löst also ein innerkünstlerisches Problem und kein politisches oder gar soziales [besser: sie versucht es zu lösen].

Das institutionelle Paradigma passt schlecht zu dem, was den Kunstunterricht seit Anfang des 20. Jahrhunderts ausgemacht hat. Kinder und Jugendliche entwerfen und realisieren als Schülerinnen und Schüler Bilder, die von Kunstwerken angeregt sind bzw. solchen gleichen. Ein Blick in Zeitschriften und Schulhausgänge zeigt, die tägliche Kunstpädagogik orientiert sich auch heute noch am ästhetischen Paradigma [der Moderne].

Das ästhetische Paradigma sieht Kunst als Medium, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Dabei sind die Künstler ihrer Weltsicht und ihrer Erkenntnis verpflichtet, diese formulieren sie unabhängig von der Zielgruppe. Künstler, deren Werke etwa bei einer Ausstellungseröffnung auf Unverständnis stoßen, ändern diese nicht. (Im Gegensatz dazu: In der Face-to-Face-Kommunikation ist es eine Forderung der Höflichkeit, so lange nach anderen Wörtern zu suchen, bis das Gegenüber versteht, was gemeint ist.) Werbetreibende lassen dagegen vor dem Start einer Kampagne intensiv untersuchen, wie die Botschaften verstanden werden. So gesehen sind Kunstwerke keine kommunikativen Äußerungen, sondern Statements.

Künstlerische Äußerungen stehen im indirekten Modus, das heißt, sie werden anders auf die Wirklichkeit bezogen, wie etwa journalistische Texte und Bilder. Die Kunstpostkarte „Hiermit trete ich aus der Kunst aus Joseph Beuys“, die Klaus Staeck 1985 verlegt hat, wird anders verstanden, als die Austrittserklärung aus einem Verein. Die meisten Arbeiten, die im Kunstunterricht entstehen, sind im indirekten Modus. Der direkte Modus von visuellen Äußerungen wird kaum thematisiert.

Zusammenfassung

Die Kunst macht einen immer geringeren Anteil der visuellen Produktion aus. Empirisch gesehen erweist sie sich als eine Szene unter vielen. Die digitalen Techniken und Medien haben dazu geführt, dass die Institution Kunst die Kontrolle über die Produktion, Rezeption und Distribution von visuell bedeutsamen Produkten verloren hat. Mit der Aufgabe der Autonomie hat sie den Anspruch auf einen privilegierten Weltzugang eingebüßt. In der Kunst dominiert der indirekte Modus, dieser ist nur ein Teil der visuell bedeutsamen Produktion und Kommunikation. Kunst ist nur bedingt Kommunikation. Kunst eignet sich nicht mehr als (alleiniges) Paradigma für einen Unterricht, der Schülerinnen und Schüler zu einem kompetenten Agieren in der visuellen Kultur befähigen will.

Situation

2015 gab es weltweit etwa sieben Milliarden Mobiltelefonanschlüsse; Tendenz steigend; dabei ist allerdings zu bedenken, dass es weniger Nutzer gibt, weil viele Leute mehrere Anschlüsse haben. Das hat Auswirkungen auf die Sprache und das gesprochene Wort, aber auch auf die Welt der Bilder. Die Mehrheit der Weltbevölkerung kann damit einfach Bilder machen, verschicken und betrachten – und das an sehr vielen Orten. Die anthropologische Frage, ob der Mensch ein Bilder erzeugendes Lebewesen ist oder nicht, ist auf der Ebene der Technik und der Apparate entschieden.

Privat wie öffentlich ist die mediale Kommunikation längst multimodal (Kress, 2010)⁠. Auf dafont.com gibt es nach eigenen Angaben im Herbst 2015 mehr als 28.000 Schriften zum kostenlosen privaten Gebrauch [am 6.6.2022 sind es „65.535 Schriftarten von denen: 23.956 mit Akzenten 27.883 mit Euro-Zeichen“]. Sie lassen sich im RGB-Farbraum in verschiedenen Größen und Schnitten darstellen. Der visuelle Modus bestimmt die Interpretation von Texten wesentlich (mit).

Die digitalen Techniken haben auch in der visuellen Kommunikation zu einer Deprofessionalisierung geführt. Mediale Kommunikationsangebote werden von Leuten gestaltet, die das nicht speziell gelernt haben. Sie gehen anderen Berufen und Beschäftigungen nach. Damit hat sich zumindest im deutschen Sprachraum noch weitgehend unbemerkt eine neue Kulturtechnik etabliert. Kommunikation braucht in Zukunft Kompetenz in der produktiven wie rezeptiven Nutzung visueller Medien. Darum muss sich die Schule kümmern. Soziale Kommunikation ist dabei weit mehr als das, was wir traditionell unter Kommunikationsmedien verstehen. Nicht nur dort wachsen die Wahlmöglichkeiten. Auch im Konsumsektor nehmen die Verkaufsflächen, die Angebote und damit die Wahlmöglichkeiten zu. Damit wird für alle sichtbar: Konsumprodukte sind nicht nur als Mode wichtige Kommunikations- und Identitätskonstruktionsmitteln.

Bilder schaffen Wirklichkeit

Bilder stellen nicht nur Wirklichkeit dar, sie schaffen sie auch. Darin sind sich die Vertreter der verschiedenen Richtungen (Peez, 2005) der Kunstpädagogik einig. Unterschiede gibt es bei der Einschätzung, welche Bilder beim Schaffen von Wirklichkeit besonders einflussreich sind. Wer sich an der Kunst orientiert, sieht die Einflüsse in der Kunst. Rolf Niehoff zieht etwa eine gotische Pietá (um 1400) dazu heran, ein Bild aus dem Kosovo-Krieg zu verstehen (Niehoff, 2008)⁠. Überraschend wenige kunstpädagogische Veröffentlichungen beziehen sich auf Medien- oder Kommunikationswissenschaft (Billmayer, 2013).

Aktuelle Beispiele, die mit der Kunst nichts zu tun haben, sind die Bilder von 9/11 aber auch etwa die derzeitige Selfie-Trends, des Thigh Gap (Abstand zwischen den Oberschenkeln) oder der Bikini-Bridge (Abstand des Bundes des Bikinihöschens vom Bauch). Bilder bestimmen unser politisches Verhalten genauso wie unser Verhältnis zum Körper. Wer eine ausgeprägte Bikini-Bridge vorweisen will, isst entsprechend wenig. Die meisten Bilder, mit denen wir privat und in den Medien zu tun haben, sind leicht verständlich. Wir schauen drauf und sehen das, was drauf ist. In der öffentlichen Kommunikation demokratischer marktorientierter Gesellschaften ist der Sender dafür verantwortlich, dass die Botschaft richtig ankommt. Diese Tendenz verstärkt sich, wenn das Angebot steigt. Nutzer haben weder Zeit noch Lust, sich intensiver mit den Bildern zu befassen, die einem so unterkommen. Bilder müssen leicht verständlich sein, damit fallen sie kaum noch als medial auf.

Bilder als mediale Konstrukte zu erkennen, ist ein wichtiges Bildungsziel.

Verbraucher sind die kulturtragende Schicht

Kunst- und Kulturvermittlung basiert auf der Idee einer dominanten Kultur, der Kultur der so genannten kulturtragenden Schicht. In Europa ist das seit dem 19. Jahrhundert weitgehend das gebildete Bürgertum. Kulturelle Leistungen und Artefakte wurden für diese Schicht produziert. Zentrale Institutionen waren (und sind) Theater, Opernhäuser, Museen, Konzertsäle, Bibliotheken, Literatur und Zeitungen, viele dieser Einrichtungen werden noch heute hoch subventioniert.

Mit der Ausdehnung des Konsummarkts auf weite Bevölkerungsschichten hat sich das geändert. Die Konsumenten sind mittlerweile die kulturtragende Schicht (Billmayer, 2015). Als Prosumer ermöglichen sie die kulturellen Leistungen unserer Zeit: Bildschirmspiele, Verkehrsbauten, Flughäfen, TV-Serien, Filme, Verkehrsmittel, Haustechnik, Museen, weltumspannende Kommunikationsnetze, ein breites Angebot an Lebensmitteln, Mobiltelefonie, Tourismus. Die Konsumenten sind als ihre Könige die Auftraggeber der Konsumkultur. Sie bestimmen die visuelle Kultur, nur wofür sie Geld ausgeben und wofür sie Aufmerksamkeit aufbringen, hält sich. Sie brauchen keine Kulturvermittlung im traditionellen Sinne. Sie brauchen Methoden, um das implizite Wissen über die Kultur explizit zu machen. Sie brauchen Begriffe, um über die Bedingungen dieser Kultur nachdenken und mit anderen darüber kommunizieren zu können.

So what?

Szenario 1: Die Kunstpädagogik fühlt sich weiterhin ihrem Bestimmungswort verpflichtet und orientiert sich an der Kunst. Sie vermittelt traditionelle, moderne und zeitgenössische Kunst, kümmert sich vorrangig um die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit, sucht den künstlerisch subjektiven Weltzugang und die ästhetische Erfahrung.

Szenario 2: Die Kunstpädagogik definiert nach über 100 Jahren mit der visuellen Kultur und der multimodalen Kommunikation ihren Gegenstand radikal neu. Sie erschließt ihn für den Unterricht, entwickelt Unterrichtsmethoden sowie Lehr- und Lernmittel, die dem Gegenstand angemessen sind [Was ich seit Jahren auf bilderlernen.at versuche]. Die Lehrerinnen und Lehrer werden entsprechen qualifiziert und das Fach bekommt eine neue Bezeichnung, die der geänderten Aufgabe gerecht wird.

Folge von Szenario 1: Andere Fächer kümmern sich um die multimodale Kommunikation und damit notgedrungen auch um die visuelle Kultur. Es gibt derzeit gerade in den Sprachen Hinweise darauf, dass diese sich in näherer Zukunft mit aktueller Kommunikation befassen werden. Dazu werden sie notgedrungen Kommunikation als multimodal verstehen müssen [dazu gibt es einiges von Gunther Kress]. Es wird dann an den Schulen zwei Fächer geben, in denen Bilder rezeptiv wie produktiv thematisiert werden. Bildende Kunst wird dann als Wahlpflichtfach mit Musik, kreativem Schreiben, Tanz, Theater, digitaler Bildgestaltung etc. konkurrieren. Es wird nur noch ein Teil der Schülerinnen und Schüler das Fach belegen.

Folge von Szenario 2: Die Bildende Kunst wird entsprechend ihrer privaten, sozialen und gesellschaftlichen Relevanz nur einen kleinen Anteil des Unterrichtstoffs ausmachen. Kunst wird weniger, bleibt aber obligatorisch.

In beiden Fällen schaut es für die Kunst im Unterricht nicht gut aus.

Literatur

Franz Billmayer: Paradigmenwechsel übersehen. Eine Polemik gegen die Kunstorientierung in der Kunstpädagogik. Kunstpädagogische Postionen 19. Hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch, Wolfgang Legler und Torsten Meyer. Hamburg: Hamburg University Press. 2008.

Franz Billmayer: Da schau her! Das beobachtet die Kunstpädagogik. In: Feldvermessung in der Kunstdidaktik, hg. v. Sidonie Engels, Rudolf Preuss, Ansgar Schnurr, S. 119 – 127. München: kopaed-Verlag 2013

Franz Billmayer: Mission fulfilled. Art Education and visual Culture. In: Arts Education Beyond Art. Teaching Art in Times of Change. hb. von Barend van Heusden, Pascal Gielen. Amsterdam: Valiz 2015 S. 77 – 90

Christian Demand: Die Beschämung der Philister – Wie die Kunst sich der Kritik entledigte. Springe: zu Klampen. 2003

Christian Demand: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Für einen Ausstieg aus der ästhetischen Apokalypse – Beitrag zur Tagung Ästhetische Bildung des BÖKWE, Graz Mai 2006. In: Fachblatt des BÖKWE 2007-1, S. 25–30.

Uli Glaser: Mythos Kultur für Alle? Kulturelle Teilhabe als unerfülltes Programm, Kulutrelle Bildung >> Online, 2014 http://www.kubi-online.de/artikel/mythos-kultur-alle-kulturelle-teilhabe-unerfuelltes-programm-4 (25.10.2015)

Stefan Heidenreich: Unterscheiden statt urteilen. Kritik als Differenzagent. In: Neue Rundschau, 1999, Heft 2, S. 33-43

Gunther Kress: Multimodality – Exploring contemporary methods of communication. London: Routledge. 2010

Rolf Niehoff Bildung – Bildkultur – Bildkompetenzen. Zu einer wesentlichen kunstpädagogischen Bildungsaufgabe. In: Angeboten hg. v. Franz Billmayer. München: kopaed-Verlag 2008, S. 149 – 156)

Georg Peez: Kunstpädagogik jetzt. Eine aktuelle Bestandsaufnahme: Bild – Kunst – Subjekt. In: Bering, Kunibert/ Niehoff, Rolf (Hg.): Bilder – Eine Herausforderung für die Bildung. Oberhausen (Athena Verlag) 2005, S. 75-89 http://georgpeez.de/texte/jetzt.htm (18.10.2015)

Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik. Berlin: edition suhrkamp 2015.

Wolfgang Ullrich: Tiefer hängen – über den Umgang mit der Kunst. Berlin: Wagenbach 2004.

Wolfgang Ullrich: Gesucht: Kunst! – Phantombild eines Jokers. Berlin: Wagenbach 2007

UNESCO: Leitfaden für kulturelle Bildung, (Road Map for Arts Education). UNESCO-Weltkonferenz für kulturelle Bildung: Schaffung kreativer Kapazitäten für das 21. Jahrhundert. Lissabon, 6. – 9. März 2006 http://www.kubi-online.de/artikel/mythos-kultur-alle-kulturelle-teilhabe-unerfuelltes-programm-4 (25.10.2015)

Lars Vilks: Gute Kunst. Qualität in der Kunst 2001. http://bilderlernen.at/theorie/Vilks_gute_kunst_2001.pdf (25.10.2015)