Wer mit Bildern kommunizieren will, muss wissen, dass Bilder wie Prädikate funktionieren. Darauf hat schon Ende des 19. Jahrhunderts der russische Linguist und Literaturhistoriker Alexander Afanassjewitsch Potebnja hingewiesen:  „Das Bild ist ein unveränderliches Prädikat veränderlicher Subjekte, ein konstantes Mittel der Attraktion für wechselnde Apperzeptionen“ (Bemerkungen zur Literaturtheorie, S.314), zitiert bei VIKTOR SKLOVSKIJ (Theorie der Prosa. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-596-27339-0. S. 7).

Dieses Bild ist offensichtlich eine Fotografie, bzw. die digitale Variante eines analogen oder eines digitalen Fotos. Wir erkennen verschiedene Menschen, Gegenstände und Räume. Wir würden das Bild insgesamt als eine Straßenszene im arabischen Raum zusammenfassen (Schrift über den Läden rechts, Stil der Überdachung), dies können wir, weil wir ähnliches schon auf anderen Bildern oder durch eigenen Augenschein gesehen haben und weil wir mit der Darstellungsweise von Fotografien vertraut sind. Ohne weitere Information wissen wir nicht, was mit diesem Bild geäußert werden soll. Wir brauchen zunächst wenigstens den Zusammenhang (Kontext) in dem es steht.
Sehen wir es etwa im Zusammenhang mit anderen privaten Fotos einer Reise, dann sagt uns der Fotograf, der uns das Bild zeigt, entweder was wir darauf sehen können oder wir fragen: „Wo ist das?“
„Das war im Souk von Dubai, am 28. Dezember…, da war ganz wenig los, vielleicht weil es um die Mittagszeit war, oder weil sich die Käuferströme zunehmend in die modernen Einkaufszentren verlagern…“
Das Bild könnte dazu dienen, jenen Mann rechts zu zeigen, von dem wir den schönen Schal gekauft haben, oder den Stil der Überdachung oder das Wetter. Oder es könnte einfach als Beweis herhalten, dass wir dort waren…
Das Bild, seine Bedeutung, bleibt dasselbe, die Aussage ändert sich oder wird überhaupt erst möglich, wenn der Gegenstand, das Subjekt, worüber es eine Aussage macht, genannt wird.
Es gibt auch die Vorstellung, dass Bilderverstehen eine reduzierende Aktivität ist; so wie unsere Alltagswahrnehmung. Wir sehen die Figur und ignorieren den Grund. Wir beachten das, von dem wir meinen, dass es die Aussage des Bildes bestimmt
Das Bild könnte aber auch zur Illustration eines Zeitschriftenartikels verwendet werden. Botschaft: Schau her, hier geht es um einen Bazar … In dieser Verwendung lässt sich die Idee, Bilder würden in der Kommunikation wie Prädikate verwendet, nicht halten. In dieser Verwendung wären Bilder so etwas wie Zeigehandlungen oder Erreger von Aufmerksamkeit..

Sehen wir es etwa im Zusammenhang mit anderen privaten Fotos einer Reise, dann teilt uns der Fotograf, der uns das Bild zeigt, entweder mit, was wir darauf sehen können oder wir fragen: „Wo ist das?“

Kunst

Bei Werken der modernen Kunst gilt die Spielregel, dass der Betrachter den Gegenstand des Bildes mehr oder weniger selbst bestimmen kann – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es konsequenterweise populär, Kunstwerken keinen Titel zu geben. Dadurch, dass der Betrachter das Subjekt (das worum es im Kunstwerk geht) selbst setzen kann, entsteht die Vorstellung, Kunstwerke hätten eine unendliche „Bedeutungstiefe“.

Man kann es auch so formulieren: Diese Gebrauchsanweisung macht aus Kunstwerken Quellen unendlicher Bedeutungserzeugung. Wer glaubt, diese Tiefe sei eine Eigenschaft der Werke, fällt darauf herein, dass diese Gebrauchsanweisung in der Regel nicht thematisiert wird.

Mit dem Aufkommen des modernen Kunstbegriffs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam die Idee auf, Kunstwerke seien Mittel zur Gewinnung einer spezifischen, der ästhetischen Erkenntnis. Bis dahin waren Bilder Dekorationsgegenstände und vor allem Kommunikationsmittel. Kunstwerke sind anders, allerdings begegnet man ihnen weiterhin so als seien sie Botschaften: Was will uns dieses Bild sagen?
Der moderne Kunstbegriff wird retroaktiv auch auf Bilder und Skulpturen angewendet, die vor der Mitte des 18. Jahrhunderts hergestellt wurden.
Damit das funktioniert muss man den Werken ihren Gegenstand bzw. ihre Funktion nehmen. Dies geschieht beispielhaft im Museum, wo die Bilder losgelöst von ihrer ursprünglichen Funktion als Malereien oder Plastiken betrachtet werden. Museen sind Haupttreiber und -medien dieses kunstspezifischen Bildgebrauchs. Wer im Museum vor ihnen beten oder predigen würde, würde wohl sofort des Hauses verwiesen. Wenn wir bei der Kunstbetrachtung Interesse für den ursprünglichen Gegenstand bzw. Funktion aufbringen, dann deshalb, weil wir wissen wollen, wie und warum die Kunstwerke entstanden sind, nicht weil wir uns für die Botschaft interessieren.
Wer diese Eigenschaft den Kunstwerken zuschreibt, verkennt den instrumentellen Charakter von Zeichen (Keller 1995) und unterstellt Kunstwerken Eigenschaften, die sonst nur Personen zu kommen. Kunstwerken werden so quasi religiöse Eigenschaften zugeschrieben, statt zu sehen, dass diese Eigenschaften in der Person des Betrachters allein liegen.

Rudi Keller (1995): Zeichentheorie, Franke Verlag UTB, Tübingen u.a.. absolut lesenswertes Buch!

Klaus Sachs-Hombach kommt in seinem Aufsatz: „Bild und Prädikation“, in ders. (Hrsg.)(2001)  Bildhandeln, S.55-76, zu einem ähnlichen Ergebnis, offenbar ohne A. Potebnjas Aussage zu kennen.

Ein schönes Beispiel aus der Süddeuttschen Zeitung Nr. 108, 12. Mai 2005, S.37:

die Bildunterschrift lautet:
Petra in den Isarauen
Dieses Bild ist ein Rätselbild: Wo ist Petra? Wer ganz genau hinschaut und sich konzentriert, der kann Petra sehen zwischen den Kastanienblüten an den Isarauen. Dazu braucht es kein besonderes Fachwissen, weder über Petra noch über Kastanien. Allerdings gibt es auch keine Gewinnversprechen – wir sind ja hier nicht bei 9 Live. Petra ist nicht  schwer zu finden, den­noch werden sich wahrscheinlich die meisten Sucher an diesem Rätsel  die Zähne ausbeißen. Leichter wird’s für den, der weiß, dass Petra ein Hochdruckgebiet ist, das in den  nächsten Tagen schönes Wetter nach München bringt. Sie finden Petra auf dem Bild in der Mitte,  etwas nach hinten versetzt – da, wo die Sonne scheint. Foto: dpa

Eine laufende Werbefläche in Berlin ist aufgrund eines technischen Defektes stehengeblieben. Hier ergibt sich aus Zufall die Kombination der Kinowerbung mit dem Satz „KISS ME KINDL!“, der an sich zur nächsten Werbebotschaft gehört. Alles lässt sich interpretieren.

In einen Fotoalbum aus den 1930er Jahren, das die junge Frau ihrem Freund geschenkt und gewidmet hat, steht:
Burg mit Mädchen – oder
Mädchen mit Burg – oder
nur Burg – oder
nur Mädchen?

Diese schwedische Deo-Werbung von 1972 arbeitet mit Sprache und Bildmitteln, um zu zeigen, worum es geht.
Überschrift: Lebt wohl, peinliche Schwitzflecken
Text links: nass trotz Deodorant
Text rechts: Das neue Spree extra trocken hält dich trocken und geruchsfrei.
(außerdem handelt es sich wegen der Gleichzeitigkeit hier um eine besondere Form von „Vorher-Nachher-Bild„)

Worüber Bilder etwas aussagen, muss dazu „gesagt werden“. Damit in diesem Pitkogramm (oberes Beispiel) auf dem Flugplatz Arlanda bei Stockholm klar wird, dass hier nicht „Erwachsener mit Kind“ (unteres manipuliertes Beispiel) sondern „Kinder an die Hand nehmen!“ gemeint ist, zeigen die konzentrischen Kreissegmente unter und über den Händen. Diese Kreissegmente dienen als Rahmen oder Hinweiser.

Bei Montageanweisungen von IKEA wird in ähnlichen Fällen eine Ausschnitt-Vergrößerung in einer „Sprechblase eingesetzt.

Erstfassung 01. 10. 2006
überarbeitet 08. 12. 2020