Clash of Cultures -in der Kommunikation

Für Fridhelm Klein

Bei jeglicher Kommunikation können wir davon ausgehen, dass sich der Code des Senders von dem des Empfängers unterscheidet. Um eine gelingende Kommunikation zu ermöglichen, muss dieser Unterschied möglichst ausgeglichen werden. Dies kann dadurch geschehen, dass der Empfänger sich bemüht, möglichst so zu kommunizieren, dass der Sender ihn versteht, oder dadurch, dass der Empfänger sich bemüht, die Verständnislücken möglichst zu schließen. Jurji M. Lotman[1] schlägt vor, diese Alternativen zur Klassifizierung von Kulturen zu verwenden.
In einer empfängerorientierten Kultur herrscht ein Kommunikationsmuster vor, bei dem sich der Sender um die Verständigung bemühen muss. Er wird im Endeffekt dafür verantwortlich gemacht, wenn er nicht verstanden wird, in einer senderorientierten Kultur ist es genau umgekehrt, hier trägt der Empfänger die Verantwortung für das Gelingen der Kommunikation.[2] Der größte Teil der menschlichen Geschichte war geprägt von senderorientierten Kulturen, heute gibt es sie noch in der Religion und in vielen totalitären Regimen; die moderne westliche Kultur ist empfängerorientierte.
Nach Lotman sind in der senderorientierten Kultur das Esoterische, das Unbegreifliche und das Unzugängliche die höchsten Werte, Poesie, Zungenreden, Esoterik sind die meist geachteten Genres; in der empfängerorientierten Kultur heißt verständlich gleich wertvoll, die wichtigsten Genres sind Prosa, vor allem Essays, Chroniken, Zeitungsartikel, Dokumentarfilme und Television – beispielhaft die Werbung.

Obwohl unsere Kultur eine in hohem Grade empfängerorientierte Kultur (geworden) ist, sind  nach wie vor verschiedene soziale Bereichen von der Senderorientierung geprägt. Die Kunst gehört dazu.[3] Während das Kunstsystem dem Künstler alle Freiheiten zugesteht, unterwerfen sich die Kunstbetrachter beinahe bedingungslos dem „Fürsten Kunstwerk“.[4] Wer Kritik anbringt und sich weigert, der Kunst bedingungslos zu folgen, wird als Banause bezeichnet und als dumm ausgegrenzt.[5]

Im Vergleich zu den Bildern, die in unserer Kultur produziert und gesehen werden, ist die Anzahl der Kunstwerke verschwindend gering. Die meisten Bilder folgen dem kulturellen Mainstream, sind leicht zu entziffern und werden eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu erregen um die Welt insgesamt schöner und interessanter zu machen. Sie sind so leicht zu „entziffern“, dass wir sie meist gar nicht mehr als Bilder wahrnehmen.

Im Kunstunterricht treffen diese beiden Kulturen aufeinander: er ist wie die Schule insgesamt empfängerorientiert,[6] seine Bezugsdisziplin Kunst hochgradig empfängerorientiert. Bilder aus beiden Kulturen sind Gegenstand des Unterrichts, wobei mitunter nicht trennscharf zwischen beiden unterschieden wird. Und dann leiden viele Kunstlehrer unter ihrer Eigentlichkeit, eigentlich sind sie Künstler …, die Umstände verhindern, dass sie ihre Eigentlichkeit leben können… Vieles worunter „Kunst“-Lehrerinnen und -Lehrer und damit der „Kunst“-Unterricht leiden, ist struktureller Natur und hängt mit diesem clash of cultures zusammen.

In früheren Zeiten war es Aufgabe von Malerei, Bildhauerei und Architektur Wissen und Wahrheiten zu vermitteln. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts versteht die Kunst sich als eine Institution, deren Aufgabe es ist, Wissen und Erkenntnis zu erzeugen – die früheren Aufgaben überläßt sie den Massenmedien, allen voran dem Fernsehen und der Werbung.

Kunst sieht sich mindestens gleichwertig neben Wissenschaft und Religion, wie diese ist sie einer besonderen Wahrheit verpflichtet. Wahrheit aber ist unteilbar und manifestiert sich in jedem Werk. Ein Künstler, der sein Werk auch nur ein bißchen verändern würde, um damit vom Publikum besser verstanden zu werden, würde diese Prinzipien verraten und sofort seinen Status verlieren.[7] Empfängerorientierung wäre in der Kunst ein Verstoß gegen das zentrale Bemühen, der Wahrheit immer näher zu kommen. Würde dieser Anspruch aufgegeben, wäre Kunst sich nicht mehr von anderen gesellschaftlichen Bereichen, die dem Diktat der Innovation unterliegen zu unterscheiden, Kunst wäre ebenso modern wie Mode, die in der nächsten Saison sich selbst überholt, oder Werbung oder Fernsehformate.[8]

Offen bleibt die Frage, ob Kunst überhaupt Kommunikation ist, Kommunikation verstanden als der Versuch, einen anderen mit Hilfe von Zeichen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Im Interpretationsspiel Kunst gilt die Regel, unterstelle, es handelt sich um einen Mitteilung, aber der Sender ist nicht mehr erreichbar… so wie Gott, der sich nach dem Diktat der Heiligen Schrift zurückgezogen. In einer empfängerorientierten Kultur gilt ein derartiges Verhalten als höchst arrogant.[9]

Diese Orientierung an der Wahrheit ist umso merkwürdiger in einer Zeit, in der die Erkenntnistheorie den Begriff  Wahrheit durch Tauglichkeit ersetzt hat und Soziologen Wahrheit als Übereinkunft und Objektivität als Intersubjektivität beschreiben. Im Gegensatz zu diesem „demokratischen“ Verständnis setzt die Kunst auf eine Wahrheit, die sich auf die besondere weil gesteigerte Subjektivität des Künstlers und des (eingeweihten) Rezipienten beruft … Kunstwerke sind wie alle Bilder „stehende Prädikate für wechselnde Subjekte“[10], wobei der Betrachter bei Kunstwerken jeweils nach eigenem Gutdünken das Subjekt einsetzen kann, so ergeben sich die unterschiedlichsten Aussagen auf der Grundlage ein und desselben Kunstwerks. Werke, die viele Interpretationen auslösen, gelten als besonders wertvoll.[11] Die Kommunikationstheorie geht davon aus, dass sich die Codes von Sender und Empfänger nie ganz genau decken, in einer senderorientierten Kommunikation kommt deshalb die Interpretation durch den Empfänger nie zu einem Ende, es bleibt immer ein unverstandener Rest. Kunstwerke sind so nie ganz zu ergründen. Auch so lässt sich erklären, warum Kunstwerke unendlich viele Interpretationen auslösen (können).

Die verschiedensten Interpretationen existieren nebeneinander, ohne dass eine falsch und die andere richtig ist. Es gibt keine Instanz, die für einheitliche und damit richtige Deutungen sorgt. Interpretationen, die innerhalb der Kunst angestellt werden, haben eine äußerst geringe intersubjektive Relevanz, z.B. keine Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft. Diese geringe Bedeutung einzelner Interpretationen steht im Kontrast zum hohen Sozialprestige der Künstler und zur besonderen Hochachtung, die die Kunst genießt.

In einer empfängerorientierten Kultur ist – wie gesagt – der Sender dafür zuständig, dass seine Botschaften verstanden werden. Die Bilder sind so einfach zu verstehen, dass uns in den meisten Fällen ihr Zeichencharakter verborgen bleibt und wir ihre Bedeutung für die Konstruktion der Welt unterschätzen.

Bilder sehen kann jeder, was gibt’s dabei zu lernen?

Bildbasierte Massenmedien sind „Leaning-Backward-Medien“, deren Konsum nicht nur keinerlei Anstrengung erfordert, sondern vielmehr Zeitvertreib und Genuss bietet. Anders ist es mit Werken der Kunst, ihnen unterstellen wir tiefere Bedeutungen, um sie müssen wir uns bemühen. Die alltäglichen Bilder, die unsere Welt wesentlich nachhaltiger bestimmen, übersehen wir vor lauter Aufmerksamkeit und Anstrengung beinahe ganz. Die an der Kunst orientierte Fachdidaktik ignoriert sie (weitgehend).

Aufgabe von Schule ist es, bei Schülerinnen und Schülern die Konstruktion von Weltmodellen anzuregen, die es ihnen ermöglichen, in der Welt zurechtzukommen. Unser Wissen erwerben wir allmählich, wir fangen einfach und klein an und bauen darauf auf. Wenn es um Wissen und Fähigkeiten geht, dann fangen Menschen immer wieder bei Null an. Schule und Unterricht muss die Welt so vermitteln, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Wissen und ihr Weltverständnis entsprechend entwickeln und erweitern können. Schule muss sich also an den Schülerinnen und Schülern orientieren. Die Schule muss also einen Code verwenden, den die Empfänger verstehen können. Dies geschieht im schulischen Unterricht immer in dieser oder jener Form, denn eine Kunstlehrerin oder ein Kunstlehrer, der nicht auf seine Schülerinnen und Schüler eingeht, hat ein schweres Leben und wird über kurz oder lang seinen Stil ändern. Aber der theoretische Überbau passt nicht ganz zu dieser Praxis.

Quer durch die Kunstlehrer und Kunstlehrerinnen verläuft die Demarkationslinie der beiden Kulturen, sie sind der Schauplatz des clash of cultures. Als Lehrer wollen sie den Schülerinnen und Schülern die Welt verständlich machen, als Künstler haben sie das Gefühl, sie würden dabei eine wichtige Sache verraten.

Übergänge benutzen wir, um von hier nach dort zu kommen, das können Brücken sein, Grenzübergänge, Transithallen, Flüchtlingslager, die Pubertät oder die Ausbildung; alle beinhalten die Utopie, es gäbe genau abgegrenzte Bereiche und Begriffe. Diese Utopie wird nur selten eingelöst. Es gibt weder reine empfänger- noch reine senderorientierte Kulturen. Es gibt Kunstwerke ohne tiefere Bedeutung formuliert in einem Code, den die Mehrheit versteht, und wir kennen Werbekampagnen, die sich aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie so geheimnisvoll geben, dass Konsumenten mehrfach und genau hinschauen müssen, um die Botschaft zu verstehen.

Der Kunstlehrer und die Kunstlehrerin stehen auf dem Übergang zwischen den beiden Kulturen, sie müssen diese Situation klar erkennen und dürfen die empfängerorientierte Funktion des Lehrers nicht mit der senderorientierten des Künstlers verwechseln, und sie dürfen die empfängerorientierte Funktion der Schule nicht mit der senderorientierten der Kunst vermengen. Wer weiß, zu welchem Pol ein Verhalten oder ein Sachverhalt gehört, tut sich leichter als einer, der mehr oder weniger blind im widersprüchlichen Begriffsnebel stochert.

Kritik:

Unterricht, der die Empfängerorientierung auf die Spitze treibt, langweilt auf Dauer, weil er vom Rezipienten wenig Anstrengung und Aktivität fordert. Gerade das Verborgene und Verbotene reizt aber die Neugierde und das Begehren.

Die Unterscheidung Sender- Empfängerorientierung mag gut geeignet sein, um Kommunikationsstrukturen zu beschreiben, aber Unterricht ist mehr als Kommunikation. Unterricht – Kunstunterricht noch  mehr als anderer – heißt in erster Linie, dass der Lehrer sich für Schülerinnen und Schüler Probleme einfallen lässt, die diese dann zu lösen haben. Lehrerinnen und Lehrer, die dabei die Kinder und Jugendlichen nicht loslassen (können), halten sie in Abhängigkeit und Unmündigkeit. Und Schule handelt davon, den Übergang von der Unmündigkeit in die Mündigkeit zu schaffen.

 

Franz Billmayer Oktober 2004

[1] Literaturwissenschaftler, Semiotiker, wichtiger Vertreter der Tartu-Schule

[2] Diesen Hinweis verdanke ich Göran Sonesson, der darüber in seinem Buch: Bildbetydelser – Inledning till bildsemiotiken som vetenskap, Lund Studentlitteratur 1992, auf Seite 118f berichtet. Leider war es mir bisher nicht möglich, die Stelle bei Lotman zu finden. Für Hinweise wäre ich sehr dankbar.

[3] Teilweise auch noch die Hochschulen, dass hier eine Trendwende anvisiert wird, zeigen die verschiedenen hochschuldidaktischen Bemühungen.

[4] Vgl. Wolfgang Ullrich, Tiefer hängen. Über der Umgang mit der Kunst, Berlin Wagenbach Verlag 2003…. vor allem das Kapitel Vor dem Fürsten S. 13-32

[5] vgl. das für das Selbstverständnis der Kunstdidaktik äußerst wichtige Buch von Christian Demand, Die Beschämung der Philister – wie die Kunst sich der Kritik entledigte, Springe zu Klampen Verlag 2003

[6] Auch wenn die meisten Lehrerinnen und Lehrer den Schülerinnen und Schülern anders erscheinen.

[7] Allenfalls können wir uns einen Künstler denken, der genau dies zu seiner künstlerischen Strategie erklärt und dadurch gegenüber der Kunst sich als innovativ erweist… vor dem modernen Kunstbegriff, war es natürlich allenthalben üblich, dass Künstler die Werke so machten, wie die Auftraggeber es verlangten. Der Barock der Gegenreformation war dezidiert empfängerorientiert.

[8] Diesen Gedanken verdanke ich einem Gespräch mit Christian Demand.

[9] Und wenn ich die Sache richtig sehe, haben die christlichen Kirchen bei der Mission mit dieser göttlichen Arroganz erhebliche Schwierigkeiten.

[10] Aleksandr A. Potebnja: Bemerkungen zur Literaturtheorie, Erstausgabe 1905, S. 314,  zitiert bei Viktor Sklovskij: Theorie der Prosa, Frankfurt am Main Fischer Taschenbuch 1984 (russisch 1925), S.7, siehe dazu auch Sachs-Hombach, Klaus: Bild und Prädikation, in ders. (Hrsg.) Bildhandeln, Magdeburg: Scriptum-Verl. 2001, S. 55 – 76

[11] Wer mit Bildern kommunizieren will, muss das Subjekt als Kommentar mitliefern.