Only by forgetting, I can see the world as it really is.
(David Byrne im Film „True Stories“ – 1986)

Der Text handelt vom Interpretieren und ist die Bearbeitung eines Artikels,  der in den BDK-Mitteilungen 4-2005 erschienen ist und der wiederum die Bearbeitung meiner Antrittsvorlesung ist, die ich 19. Januar 2005 an der Universität Mozarteum Salzburg gehalten habe.

In der Diskussion wird die sinnliche von der ästhetischen Wahrnehmung unterschieden, diese Unterscheidung hat mir immer Schwierigkeiten gemacht. Ich möchte eine andere Unterscheidung anbieten: Steigerung und Reduktion von Wahrnehmungskomplexität.

Wahrnehmen ist Interpretieren

„Wahrnehmung ist Interpretation, ist Bedeutungszuweisung.“ (Gerhard Roth)[1]

Die Umwelt reizt die peripheren Nervenzellen. Diese geben die Störungen als einfache elektrische Impulse weiter. Die ursprünglichen Reizauslöser, die Gegenstände, das Licht, das von ihnen reflektiert wird, &c. gehen in diesen unspezifischen Signalen auf. Bau- und Funktionsweise der Sinnesorgane begrenzen das Spektrum der Reize, beim Auge auf das sichtbare Licht. Allerdings werden diese wenigen Daten intern extrem aufwändig interpretiert: jeder einzelnen Netzhautzelle im Auge stehen 100.000 Nervenzellen zur Verarbeitung der Reize gegenüber. [2]
Aus den für das Gehirn „unmittelbar“ gegebenen Daten von der Peripherie, schließt es, mit Hilfe evolutionär und biografisch erworbenen Wissens auf die nur mittelbar gegebenen Anlässe für die Reize. Dieser Interpretationsvorgang ist derartig automatisiert, dass wir ihn nur dann bemerken, wenn wir auf eine Sinnestäuschung hereinfallen.
Wahrnehmung ist immer Interpretation, eine trennscharfe Unterscheidung zwischen einer rein biologisch physiologischen und einer kulturell bestimmten lässt sich nicht durchhalten.

Unterscheidung Reduktion – Steigerung

Dazu eine Geschichte:

Es ist Viertel vor …, um sechs macht die Post zu und der Brief muss noch weg. Mit dem Rad durch die Stadt, die Augen auf den Boden, rechts und links nur, um das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer einzuschätzen, geht der Fußgänger auf die Straße, biegt das Auto aus der Parklücke, kann ich den Radfahrer noch überholen … ich fahre durch einen Tunnel, aus dem großen Wahrnehmungsangebot filtere ich heraus, was ich brauche … Das Radfahren läuft automatisch, ich spüre weder den Sattel noch die Qualität der Lenkergriffe, ich schaue auf die Uhr … ich sehe die schönen Frauen nicht, ich höre das Flugzeug nicht, das über mir fliegt, und ich rieche auch die Abgase nicht …

Eine Stunde später gehen meine Frau und ich durch die selben Straßen, aber sie sind anders, wir haben Zeit … Wir reden über das, was wir sehen, riechen und hören. Wir bewerten, was wir wahrnehmen und versuchen, es zu verstehen.
Die Stadt ist die gleiche geblieben, aber die Daten, die ich aus ihr „gewinne“, sind andere. Auf der Fahrt zur Post war ich im Modus der Wahrnehmungskomplexitätsreduktion, während des Abendspaziergangs waren wir im Modus der Wahrnehmungskomplexitätssteigerung.
Diese Unterscheidung erscheint mir für die fachdidaktische Diskussion fruchtbar.

Reduktion als Schemabildung

Die Reduktion von Komplexität ist der Normalfall. Schon weil ein System immer kleiner als seine Umwelt ist, kann es nicht alle Daten verarbeiten, die die Umwelt anbietet. Darum geht es auch nicht, es reicht, wenn wir zurechtzukommen.[3] Dazu brauchen wir lediglich angemessene Informationen. Als Radfahrer brauche ich mich nicht mit Radkappen von Autos beschäftigen…
Die Reduktion der Wahrnehmung ist eine Frage der Zeitökonomie. [4]

Reduktion wird gelernt.

Wie wird auf dem Weg zum Postamt das bunte Wahrnehmungsangebot zum Tunnel?
Wenn wir in ähnlichen Situationen die gleichen Interpretationen immer wieder erfolgreich wiederholen, entwickeln wir Routinen. Bei jeder Wiederholung lassen wir unnötige Details weg, bis wir im Idealfall ein Muster entwickelt haben, das passt. Wir reagieren schließlich auf einige wenige Schlüsselreize. So können Experten aufgrund relativ weniger Informationen komplexe Situationen einschätzen.
Als ortskundiger und erfahrener Verkehrsteilnehmer bin ich Experte und kenne den Weg wie im Schlaf, und ich fahre ebenso traumwandlerisch sicher Fahrrad.

Reduktion durch Input

Ein Tunnel bietet zwischen Eingang und Ausgang ein gleichförmiges Wahrnehmungsangebot. Bei der Fahrt zur Post habe ich diesen Tunnel durch Ausfiltern unnötiger Daten hergestellt.
Aber derartige Tunnel lassen sich auch durch entsprechende Gestaltung auf der Angebotsseite herstellen. Autobahnen ersparen den Verkehrsteilnehmern, denen es pressiert, das Ausfiltern, indem sie die Komplexität der Wahrnehmung so reduzieren, dass sie überall wie Ortskundige agieren können. Genormte Umgebungen [5] erleichtern das Leben weltweit auf Bahnhöfen, Flugplätzen, in Supermärkten und Fastfoodrestaurants.
Am einfachsten lässt sich die Wahrnehmung quantitativ reduzieren. Eine monochrome, homogene Fläche oder ein einfaches sich wiederholendes Muster bietet weniger Wahrnehmungsmöglichkeiten, als eine strukturierte bemalte Fläche. Umgebungen, in denen Konzentration wichtig ist, sind möglichst reizarm gestaltet: Operationssäle, Bibliotheken, Sportplätze, Galerien, Museen, Konzertsäle …
Reduktion als Modus bestimmt unseren Alltag. Alltag ist Wiederholung in festen sozialen Umgebungen, die auf Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit des Verhaltens angewiesen sind.
Aber: Die Schemata, die uns schnell und sicher handeln lassen, erschweren es, neue Situationen als solche zu erkennen. Wenn irgendwo die Vorfahrt geändert wird, dann verursachen vor allem einheimische Verkehrsteilnehmer noch nach Wochen und Monaten Unfälle. Für erfolgreiches Handeln und Verhalten müssen wir ein angemessenes Verhältnis zwischen Schema und Schemabruch entwickeln: wir brauchen Wahrnehmungskomplexitätsreduktion und Wahrnehmungskomplexitätssteigerung.
Wenn wir die Reduktion im Alltag haben, so sollten sich die Steigerungen im Fest, in der Freizeit, der Muse, im Spiel, im Vergnügen und der Unterhaltung finden lassen.

Steigerung durch Input – Beispiel Tourismus

Der Tourismus hat seine Wurzeln in der Grand Tour des 18. Jahrhunderts, die als Teil der Erziehung auf verschiedenen Routen zu den klassischen Stätten Italiens führte. Eigene unmittelbare Erfahrung ergänzte das aus Büchern und Unterricht erworbene Wissen. Der Tourist sucht die besondere Erfahrung: Das eigene Erlebnis.
Das Erlebnis und das Projekt des „schönen Lebens“ beschreibt Schulze als die zentrale Handlungsrationalität unserer Kultur. [6] Beide bestimmen vor allem den Tourismus. Im Rahmen der Maxime „mach was aus dir“ verfolgt der Tourist ein ehrgeiziges biografisches Projekt.

Erlebnisse lassen sich nur bedingt steuern, sie ergeben sich aus zwei Komponenten: der „äußeren“ Welt und deren Verarbeitung (Interpretation) im „Inneren“ des Organismus. Über beide Größen versuchen wir Erlebnisse zu beeinflussen: Das Wahrnehmungsangebot durch Situationsmanagement, die Verarbeitung etwa durch Drogen oder eine entsprechende Einstellung.
Der Tourist versucht es mit dem Situationsmanagement. Er sucht nach dem entsprechenden Wahrnehmungsangebot, in der Hoffnung, dass dieses eine entsprechende Verarbeitung und damit Erlebnisse auslöst … Touristengespräche kreisen um Fragen der richtigen Situation … Wo ist wann der Sonnenaufgang am schönsten.

Verdichtung

Touristen ziehen die pittoresken Innenstädte den für den Autoverkehr gestalteten Gewerbegebieten ebenso vor, wie die Alpen mit ihren unterschiedlichen Tal-, Berg- und Felsformationen der norddeutschen Tiefebene. Touristen bevorzugen Gebiete, die reich an Details sind. Detailreichtum bedeutet pro Flächeneinheit eine hohe Dichte an unterscheidbaren Wahrnehmungsgegenständen, die sich nicht mechanisch wiederholen. Auch in detailreichen Umgebungen gibt es immer noch weniger interessante Zwischenräume, so laufen wir immer Gefahr, die begrenzte Zeit unnötig zu verplempern. Hier hilft uns Baedeker seit 1832, mit seinen Sternen fahren wir von Highlight zu Highlight und klammern den Raum dazwischen aus.

Aus Gastgebern sind im Laufe der Geschichte Anbieter von touristischen Erfahrungen geworden, die sich nicht mehr allein auf das Vorgefundene verlassen. Wahrnehmungsangebote werden von Spezialisten nach den Bedürfnissen der Touristen entworfen und hergestellt
In Las Vegas oder neuerdings in Dubai, wo es außer Wüste nichts gibt, werden künstliche Erlebniswelten nach romantischem Muster gebaut. Bei diesen Themenparks und Themenhotels gehen die bedeutungslosen Zwischenräume gegen null; sie übertreffen ihre Vorbilder an Detailreichtum. [7]

Eine Nachbildung des Markusplatzes im Einkaufsbereich des Hotels.

Das Themenhotel Venetian in Las Vegas ist eine Verdichtung Venedigs auf die Sterne Baedekers – nur die Markuskirche fehlt. In Dubai wurde der alte Souk nur etwa 20km vom Original entfernt im Madinat-Hotel nachgebaut – einige Kilometer davon entfernt gibt es in der Mall of the Emirates das ganze Jahr eine Skipiste.
Diese Themenparks und Themenhotels sind verdichtete Nachbauten und als solche auch Zeichen für die Originale. Indem wir diese Nachbauten als Zeichen nehmen und mit den Originalen vergleichen, steigern wir die Wahrnehmung noch mal – dieselbe Umgebung als Realität und als Zeichen.

Eine weitere Methode der Steigerung ist die Erhöhung der Geschwindigkeit, darauf gehe ich nicht weiter ein.

Tourismus ist mehr als Input

Wenn wir den Tourismus nur unter dem Aspekt des Situationsmanagements betrachten, übersehen wir vermutlich das Wesentliche.

Die Fremde als Schemabruch

Als Touristen begeben wir uns in Situationen, in denen wir uns wenig oder kaum auf routinierte Wahrnehmung verlassen können. Um dort zurechtkommen, sind wir zu erhöhter Aufmerksamkeit und intensiver Wahrnehmung gezwungen. Orientierung an unbekannten Orten, richtiges Reagieren auf fremde Gepflogenheiten, Verstehen einer fremden Sprache, das braucht Zeit. Touristen geben sich vor allem in den ersten Tagen durch ihre Langsamkeit im Supermarkt ebenso zu erkennen wie bei den Sehenswürdigkeiten. Alles kann ihnen zum Zeichen für alles Mögliche werden, das Normale des Urlaubsortes wird zum Außergewöhnlichen und damit zum Gegenstand von Interpretation und Gespräch.
Die Fremde ist ein automatisch anspringender Wahrnehmungsmotor, der die Komplexität unserer Wahrnehmung steigert.

Zweckfreiheit und Sorglosigkeit

Das stimmt nur zum Teil, zunächst löst das Fremde Unsicherheit bis hin zur Angst aus, was die Wahrnehmung eher verengt. Offene Wahrnehmung braucht eine gewisse Sicherheit, und genau diese bietet der moderne Tourismus – Sicherheit in der unsicheren Fremde. [8]
Mit der gekauften Gastfreundschaft erwerben die Touristen Sorglosigkeit. Für alle Notwendigkeiten des Lebens sorgen die Gastgeber. Die Betten werden täglich gemacht, das Frühstück serviert und arbeiten muss man sowieso nicht. Touristischer Urlaub ist insgesamt betrachtet von einer Reduktion der Komplexität der Lebensbewältigung geprägt: So bleibt alle Zeit für Wahrnehmungen. Sie müssen nicht aus Gründen der Effizienz reduziert werden.
Ein Urlauber hat in der Steiermark eine kleine Blume entdeckt und diese mit Hilfe eines Pflanzenbuches bestimmt; zu Hause bemerkte er dieselbe Blume zum ersten Mal in seinem Garten, die dort wohl schon seit Jahren in größerer Menge wächst.

Fotografieren und Erzählen

Auf touristischen Reisen erreicht die Fotografie quantitativ ihren alljährlichen Höhepunkt. Wer fotografiert, unterscheidet zwischen erinnerungswert – nicht erinnerungswert und zwischen fotografierenswert – belanglos. Wer fotografiert, muss genau und intensiv hinschauen. Alle Phänomene bekommen die Zusatzverarbeitung und damit Aufmerksamkeit „Bild“.

Sie bekommen auch die Aufmerksamkeit „Erzählung“. Wer eine Reise tut, muss etwas erzählen. Das Erzählen steigert die Komplexität der Wahrnehmung einfach dadurch, dass die Eindrücke erinnert und organisiert und bei der Erzählung vergegenwärtig werden. Dafür werden die Fotografien verwendet, um später kaum mehr angeschaut zu werden. Touristische Fotografien sind vor allem mediale Kurzzeitgedächtnisse.

Spiel

Die Touristen, die in den Sommermonaten von der Punta Sabbioni mit dem Schiff nach Venedig fahren, unterscheiden sich deutlich von den Einheimischen, die zur Arbeit oder zur Schule müssen. Sie versuchen, die Plätze mit Aussicht zu ergattern, schauen neugierig auf alles, was sich in der Lagune tut. Ihre Kleidung ist so, wie sie ihre Kinder in den Kindergarten schicken: kurze Hosen, T-Shirts, Spaghettiträger, nackte Füße in Sandalen … und alles sehr bunt. Sie freuen sich mit ihren Fotoapparaten auf die Sehenswürdigkeiten. Aber so wie sie angezogen sind, werden viele nicht in den Markusdom kommen, weil die Verantwortlichen ihre Kleidung für unangemessen halten.

Touristen sind bunt gekleidet. In Venedig tragen sie manchmal Narrenkappen auf dem Weg zurück zum Lido di Jesolo.

Der Tourismus als Modus

Auch die Kleidungsstücke, die im Umfeld des Markusplatzes angeboten werden, helfen nicht. Hier gibt es seit Jahren Narrenkappen, die wir auch vom Münchner Oktoberfest kennen. Sie eignen sich für den einmaligen Gebrauch und werden in der Regel bis zur Stadtgrenze allerhöchstens bis zum Erreichen des Hotels oder des Campingplatzes getragen.

Diese Narrenkappen können wir als ein äußeres Zeichen für die innere Verfassung der Touristen betrachten oder als Versuch mit diesem Outfit, Naivität und Neugierde, also offenes und unvoreingenommenes Wahrnehmen wie das von Narren und Kindern, zu erreichen.
Outfit und Benehmen verweisen auf die spielerische Einstellung gegenüber der Stadt und ihrem Erlebnisangebot. Mit wenig Rücksicht auf den kulturellen Zusammenhang verstehen die Touristen die Welt zum Ärgernis der Kulturtouristen als ein vergnügliches Wahrnehmungsangebot. [9]

Nur nebenbei: In ihrem destruktiven, rücksichtslosen, verantwortungslos aggressiven und imperialen Verhalten gleichen sich Tourist und moderner Künstler…

Der Tourismus als Modus

Der Tourismus lässt sich auch anders lesen: Situationsmanagement ist nur vordergründig. Eigentliches Ziel ist ein spezifisches Verarbeitungsverhalten von Wahrnehmungsangeboten, und die Reise ist nur eine Praktik, um in diesen Zustand zu kommen.
Von dieser allgemeinen Aufmerksamkeit und Neugierde profitieren auch Museen und andere Sehenswürdigkeiten, die gerne im Rahmen von touristischen Reisen besucht werden. Einheimische besuchen selten die Museen der eigenen Stadt.
Andere Beispiele der Wahrnehmungssteigerung: Filme, Computerspiele, Stammtischgespräche, Essen gehen, ausgefallen kochen, Weine verkosten, &c. Unsere Freizeit ist angefüllt mit diesem Verhalten.

Die Funktion der Freizeit ist es, Schemabruch zu ermöglichen. [10]

Steigerung durch Verarbeitung – Beispiel Kunst

Wie der Tourismus so findet die Kunstbetrachtung in der Freizeit statt – außerhalb der Sorge um die Bedürfnisse des Lebens. Allerdings gilt die Kunstbetrachtung als eine ernsthafte Beschäftigung, die entsprechende Mühen bereiten kann und muss.

Modus Aufmerksamkeit

Besucher von Museen und Galerien erkennen wir wie auch Touristen an ihrem Verhalten. [11] Sie gehen langsam, schauen die Bilder mit ein wenig zur Seite geneigten Köpfen an, manche halten sich zum genaueren Hinschauen mit der Hand das Kinn, lesen die Titel, schauen sich die Kunstwerke von verschiedenen Entfernungen an, manche bleiben lange vor einem Bild sitzen, in Betrachtung versunken. Die Besucher weisen sich gegenseitig auf ihre Beobachtungen und Wahrnehmungen hin, sie reden über die Ausstellung, die ausgestellten Werke und über die Kunst, das alles mit gedämpften Stimmen, um die anderen nicht zu stören.

Der Zweck der Kunst ist die Herstellung von Aufmerksamkeit. M. Goldhaber [12]

Museen sind spezielle Ort der Wahrnehmung und Interpretation

Museen scheiden das Besondere vom Üblichen. Das Wichtigste ist die Schwelle, wo entschieden wird, was herein gelassen und damit gesehen wird. Alles, was dort ausgestellt ist, beansprucht innerhalb der Hierarchie der Gegenstände einen der oberen Plätze.

Dies fordert eine entsprechende Aufmerksamkeit. Der Besuch ist streng ritualisiert.
Die Räume sind hoch, groß und fast leer, die Materialien unaufdringlich gediegen, die Abstände zwischen den Exponaten sind, vor allem wenn es sich um zeitgenössische Kunst handelt, sehr groß. Die Exponate werden im Stehen betrachtet, zu große Bequemlichkeit schadet der Konzentration. Die Architektur dämpft die Geräusche.

Alles ist wichtig

Der Umgang macht Gegenstände zu Kunstwerken. Kunst ist keine Wesenseigenschaft, sondern eine Gebrauchsanweisung. Kunst als Zuschreibung besagt, dass in einem Kunstwerk sich eine ganze in sich stimmige Welt manifestiere, in der alle Elemente sich gegenseitig brauchen. Alle Details sind wichtig, eine selektive Betrachtung widerspricht der Kunstbetrachtung. Die reizarme Umgebung des Museums soll die richtige Betrachtung ermöglichen, wie Konzertsäle das richtige Hören.
Bei der Bildbetrachtung in der Tradition der Kunstpädagogik wird eine wache und inhaltlich möglichst offene Wahrnehmung geübt: das Bild darf zunächst nur beschrieben werden, inhaltliches Deuten und Sehen wird dabei unter hohem Aufwand an Disziplinierung aufgeschoben, damit soll das gewöhnliche schematische und kategorisierende Sehen unterdrückt und eine Steigerung des gewöhnlichen Sehens erreicht werden. Durch Zurückstellen des Interesses (Begehren) eine Steigerung der Wahrnehmung (Erkenntnis). [13]
Manche Bilder der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind schon so gemalt, dass sie sich unserem Begehren, Inhalte zu erkennen entziehen und uns an die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit stoßen. Ein schwarzes Bild von Ad Reinhardt müssen wir lange und genau anschauen, bis wir endlich Flächen von unterschiedlichem Schwarz entdecken. [14]

Offene Interpretation

Diese offene Wahrnehmung wird unterstützt von der Auffassung, Kunstwerke seien mehr als das, was wir sehen. Kunstwerke – das ist banal – sind Gegenstände, die gedeutet werden wollen. Moderne Kunst will tendenziell verunsichern, das erinnert an den Touristen, der auszieht, um in der Fremde ein wenig Unsicherheit zu finden.
In der Gebrauchsanweisung Kunst findet sich die Setzung, Kunstwerke sind vieldeutig und wahren immer noch ein letztes unergründliches Geheimnis. [15] So ist die Interpretation nie abgeschlossen. Das wird in der Kunst nicht als Mangel, sondern als Qualität begriffen. Wer ein Kunstwerk deutet, ist sich bewusst, dass seine Interpretation nur eine von verschiedenen Möglichkeiten ist. Andere mögen zu anderen Schlüssen kommen, wir sagen, deshalb nicht, dass sie sich irren.
Wie Kunstrezipienten müssen auch Ärzte oder Jäger ganz genau und differenziert beobachten und dies deuten. Dafür haben sie allerdings nicht unendlich viel Zeit. Um handlungsfähig zu sein, müssen sie mit ihren Deutungen zu einem Ende kommen, auch auf die Gefahr hin, sich zu irren.

Kunstwerke verwenden wir anders, sie befinden sich in einer eigenen Sphäre. Gerade weil Kunst Kunst ist, und alles andere alles andere, haben Kunstwerke keine Relevanz in der Welt. Gerade weil Kunstwerke nur dazu da sind, betrachtet, wahrgenommen und interpretiert zu werden, kann ihre Interpretation unabgeschlossen bleiben. Kunstwerke haben keine Zwecke außerhalb ihrer selbst und deshalb haben sie auch keine direkten Auswirkungen auf die Welt. Sie sind keine Kommunikationsmittel.
Eine abgeschlossene Interpretation hat immer etwas mit Zwecken zu tun. Ein „richtig“ verstandenes Kunstwerk, das mir ein pragmatisches Handeln ermöglicht, hat aufgehört, ein Kunstwerk zu sein.

Mehrdeutig

Obwohl Kunstwerke keine Kommunikationsmittel sind, fragen wir, was sie bedeuten, als handelte es sich um Botschaften. In der Bildwissenschaft werden Bilder als Prädikate verstanden; um mit ihnen kommunizieren zu können, muss benannt werden, worüber sie eine Aussage machen. [16]
Bei Kunstwerken sucht sich der Rezipient mehr oder weniger frei aus, worüber sie sind. Wir kennen vor allem aus den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die weit verbreitete Sitte, Kunstwerke mit „ohne Titel“ zu betiteln. Eine andere Methode, unabgeschlossene Interpretationen und damit immer neue Wahrnehmungen zu provozieren, provoziert eine unauflösbare Diskrepanz zwischen bildlichem Befund und Titel: habe ich das eine gedeutet, widerspricht dieser Deutung das andere, usf. so entsteht eine unablässige Interpretationsmaschine … dass wir die Interpretationsversuche nicht irgendwann aufgeben und den Gegenstand als Unsinn abtun, hängt mit der vorausgesetzten Wichtigkeit der Werke zusammen.

Innovation – Schemabruch

Seit der Entstehung des modernen Kunstbegriff im 18. Jahrhundert wurde die Forderung nach Innovation und Schemabruch zu der Konstanten der Kunst. Kunst und innovativ werden synonym gesetzt. Aufgabe des Künstlers ist es, Neues neu wahrzunehmen und zu formulieren, damit der Betrachter die Welt neu sehen kann. Der Künstler arbeitet quasi als Kundschafter.
Kunst kennt natürlich nicht nur die Steigerung durch Verarbeitung – es gibt auch Steigerung durch Input, aber diese finden wir eher im Unterhaltungsbereiche – , aber dieser Modus dominiert die moderne Kunst qualitativ und quantitativ.

Parallelen

Zwischen Tourismus und Kunst gibt es auffallende Parallelen:

  • in beiden Systemen geht es um die Steigerung der Komplexität der Wahrnehmung und um Schemabruch
  • beide Systeme sind von einem ähnlichen Set von Verhaltensweisen und Einstellungen geprägt
  • beide stellen in dieser oder jener Form eine Alternative zum Alltag dar
  • in beiden ist das Spielerische wichtig.

Unterschiede bestehen eher in der Inszenierung. Während der Tourismus auf Informationoverload und Opulenz setzt, operiert die Kunst überwiegend mit Askese und Reduktion. Tendenziell setzt der Tourismus auf Quantität der Wahrnehmungsangebote, die Kunst auf die Quantität der Interpretationen.

Beide Vorgehensweisen können wir als Methoden beschreiben, unser Wissen zu erweitern und flexibel zu halten. Das vorherrschende Kulturverständnis bewertet durch feine Unterscheidungen die Steigerung von Wahrnehmung durch Verarbeitung höher als die durch Steigerung des Inputs. [17] Lieber ein langsamer europäischer Kunstfilm als ein schneller aus Hollywood, lieber Venedig in der Adria als Venetian in Las Vegas. „Die feinen Unterschiede“ zwischen dem Souk am Creek von Alt-Dubai und seinem Nachbau in der Nachbarschaft des Burj al Arab sind so gesehen vor allem soziologisch relevant, und eine Frage der Definitionsmacht.

Was ist zu lernen?

Was bringt die Unterscheidung zwischen Reduktion und Steigerung von Wahrnehmung für die Kunstpädagogik?

Beobachter

Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte, neue Bücher, die jeweils nur einen Bruchteil der Bevölkerung erreichen, sind Gegenstand von öffentlicher Beobachtung. Architektur kommt nur vor, wenn es sich um spektakuläre Bauten handelt. Dabei versteht sich das Feuilleton offensichtlich weniger als kritische, denn als vermittelnde Instanz. [18]

Das Alltägliche und Normale wird übersehen. Die Autobahnen und die damit verbundene Inszenierung von Landschaft, die Architektur der Vororte, die privaten Gärten, das Erscheinungsbild der Werbung und der Computerspiele sind nur selten Gegenstand der öffentlichen Beobachtung, obwohl diese unser Weltbild wesentlich nachhaltiger beeinflussen als Museumsbauten, Ausstellungen und Theaterstücke. Wie wir im Alltag übersehen auch die Medien das Normale.

Der Umgang mit Kunst

Der Umgang mit Kunst, so wie wir ihn in unserer Kultur seit ca. 250 Jahren betreiben, ist in der Geschichte der Menschheit einzigartig und extrem unwahrscheinlich. Kunst wird heute u.a. als eine wichtige Alternative zur weltweit zunehmenden Schematisierung der Wahrnehmung verstanden. Viele sind der Überzeugung, dass keine andere Institution hier entsprechende Angebote macht. Der Umgang mit Kunst muss gelernt und geübt werden. Dazu gehört neben der Übung in Analyse und Deutung auch die Möglichkeit, Kunst zu erleben, um lebenslanges Interesse für dieses Phänomen zu wecken. Zu vermitteln ist vor allem die besondere Aufmerksamkeit, die Kunstwerke brauchen, durch Wissen über den Umgang mit Kunst, und vor allem durch Übung und Erfahrung.
Dies leistet der Kunstunterricht in der Regel durchaus erfolgreich.

Das Normale ist unsichtbar

Die schematische Wahrnehmung und die daraus folgenden Verhaltensschemata laufen weitgehend unbewusst ab. Dies gilt für die alltäglichen Situationen ebenso wie für die Medien, man sieht oder hört sie und hat schon verstanden. Zumal die Massenmedien sich mit hohem Aufwand darum bemühen, leicht verstanden zu werden. Die Welt wird als gegeben und fest angenommen, es gibt nichts zu verstehen.

Die schematisierte Wahrnehmung und das Normale macht den größten Teil unserer Welt aus, man kann sagen, sie sind unsere Welt, und deshalb ist es keine Frage, dass diese Gegenstand von Ausbildung und Erziehung sein muss. Diese Welt fällt uns nicht weiter auf, in ihr bewegen wir uns wie der Fisch im Wasser. [19] Das Normale lernen wir nebenbei im Alltag, im (Kunst)Unterricht geht es darum, dieses Normale als Konstruktion zu verstehen, also das schematische Verstehen zu verstehen.

Touristische Lösung

Wir betrachten andere Kulturen und sehen durch sie hindurch unsere Normalität als eine von vielen Alternativen, die sich prinzipiell verändern lassen. So können wir den Einfluss unserer Normalität auf unser Denken verstehen. Wenn die Globalisierung der Weltansichten so fortschreitet wie bisher, werden wir zunehmend Schwierigkeiten haben, entsprechende Kulturen zu finden, die sich in ihrer Differenz als alternative Standorte eignen.

Vielleicht werden wir dann Erlebnisumgebungen schaffen müssen, die sich in ihren Settings soweit von der normalen Welt unterscheiden, dass sie spielerisch die Funktion des heutigen Tourismus erfüllen. Erste Ansätze finden sich schon in TV-Shows. vielleicht werden wir nach dem Modell von „Holt mich hier raus! Ich bin ein Star!“ rohe Ameisen und Schnecken verzehren und im Winter im tiefen Schnee Lapplands ohne Zelt nächtigen … vielleicht werden Computerspiele Funktionen des Tourismus übernehmen.
Wir könnten aber auch spielerisch in die Rolle eines Touristen schlüpfen und unsere vertraute Umgebung und Verhaltensweisen mit seinen Augen betrachten, [20] oder wir könnten etwas ganz ähnliches versuchen, nämlich die

Lösung Duchamp

Vor ungefähr neunzig Jahren hat Marcel Duchamp aus einer dadaistischen Laune heraus, einige gewöhnliche Gegenstände, deren Wahrnehmung schematisch war, mit der Gebrauchsempfehlung: „Betrachten Sie es als Kunst!“ auf den Sockel gestellt. Duchamp wollte damit den Kunstbetrieb lächerlich machen oder kritisieren … Das ist ihm nur kurz gelungen. Nachdem seine Ready-mades jetzt vom System anerkannt wurden, werden sie ebenso intensiv betrachtet und vorsichtig behandelt wie Kunstwerke. Nichts wird für selbstverständlich erachtet, allem eine tiefere Bedeutung unterstellt. Allerdings können aufgrund der Struktur des Kunstsystems – Verbot des Plagiats, Gebot zu Innovation und Exklusivität – nicht beliebig viele Gegenstände und Vorgänge auf entsprechende Sockel gestellt werden … Deshalb schlage ich in kleiner Abwandlung zu Duchamp vor, die Umgangsweise, die wir in der Kunst entwickelt haben und die wir im Kunstunterricht vermitteln, auf den Alltag anzuwenden, nach der Gebrauchsempfehlung: „Betrachten Sie es wie Kunst.“

Den Supermarkt, das Tanken, die Autobahn, die Plakatwand, die Wohnungstür … und all die anderen Erscheinungen des sog. Alltags.

 

Literatur:
Helga Buchschartner, Kunstbetrachtung zwischen Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft, Frankfurt am Main, Wien u.a. 1998

Christian Demand: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte. Springe 2003

Christoph Hennig, Reiselust: Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt am Main 1997

Gerhard Schulze, Die beste aller Welten: Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? München Wien 2003

Gerhard Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1992

Wolfgang Ullrich: Tiefer hängen: Über den Umgang mit der Kunst. Berlin 2003

 

1 Gerhard Roth, „Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit“ in Gerhard Pasternak (Hrsg.), Verstehen, Erklären, Begründen. Bremen 1985 Univ. Verlag, S.8(?) zit. bei S.J. Schmidt: Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main 1987, S. 15)
2 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1997, S.124
3 Genauer müssten wir sagen, die Weltmodelle, die wir konstruieren, bestimmen die Umwelten, in denen wir zurechtkommen.
4 Interpretieren ist ein Vorgang, der Zeit braucht. Je komplexer die Wahrnehmung desto mehr Zeit.
5 Genormt heißt, wir wissen genau, was uns erwartet.
6 vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt 1992. So gesehen verfolgt der Tourist ein eigenes biografisches Bildungsprogramm. Der Wallfahrer verfolgt als religiöser Mensch mit seiner Reise das Projekt des guten Lebens.
7 Vgl. die Essays zur Hyperrealität in: Umberto Eco: Über Gott und die Welt, München 1985, S.36-99
8 So erscheint der Tod von Touristen durch Naturkatastrophen oder Unfälle in der Berichterstattung der Medien tragischer, als der Tod oder die Entführung von Geschäftsreisenden.
9 Diese Touristen liegen Venedig am Herzen, deshalb hat die Gemeinde entsprechende Kleiderverordnungen erlassen, die etwa bei Männern entblößte Oberkörper verbieten.
10 Kulturhistorisch interessant wäre zu untersuchen, wie in Epochen, die keine Freizeit kannten, Schemabrüche ermöglicht wurden. (Fasching, Feste, privilegierte Schichten, Spezialisten)
11 Schon als Kinder erwerben die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht als soziales Kapital das richtige Verhalten in Museen.
12 Michael Goldhaber in der Internetzeitschrift Telepolis: http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/2/2240/1.html&words=Goldhaber%20Michael%20Kunst (30.5.05)
13 Einen guten Überblick über die kunstpädagogische Kunstbetrachtung bietet Helga Buchschartner
14 Und das gelingt auch nur, wenn wir wissen, worauf wir achten müssen.
15 Vgl. etwa Roger M. Buergel (Leiter der documenta12) im Gespräch mit Bernhard Balkenhol und Heiner Georgsdorf in: BDK-Mitteilungen 2/2005 S.14
16 Darauf hat schon Ende des 19. Jahrhunderts der russische Linguist und Literaturhistoriker Alexander Potebnja hingewiesen:   „Das Bild ist ein unveränderliches Prädikat veränderlicher Subjekte, ein konstantes Mittel der Attraktion für wechselnde Apperzeptionen“ (A. P. in: Bemerkungen zur Literaturtheorie, S.314, zitiert bei Viktor Sklovskij: Theorie der Prosa  (FISCHER TASCHENBUCH VERLAG) Frankfurt am Main (1984) S. 7. Klaus Sachs-Hombach kommt, offenbar ohne A. Potebnjas Aussage zu kennen, in seinem Aufsatz: „Bild und Prädikation“, in ders. (Hrsg.)(2001)  Bildhandeln, SCRIPTUM VERLAG Magdeburg, S.55-76, zu einem ähnlichen Ergebnis.
17 Zur Tourismuskritik im Besonderen und zum Tourismus im Allgemeinen ist das Buch: Christoph Hennig, Reiselust, Frankfurt am Main und Leipzig, 1997 sehr empfehlenswert.
18 Vgl. dazu Christian Demand und Wolfgang Ullrich.
19 Die Kunstpädagogik, die sich von der Kunst her legitimiert, kümmert sich bis heute ähnlich wie das Feuilleton vor allem um das Besondere.
20 Gerhard Schulze schlägt in seinem Buch „Die beste aller Welten“ vor, die Normalität wie exotische Sehenswürdigkeiten zu betrachten. (S. 353)

 

In der Diskussion wird die sinnliche von der ästhetischen Wahrnehmung unterschieden, diese Unterscheidung hat mir immer Schwierigkeiten gemacht. Ich empfehle hier eine andere Unterscheidung: Steigerung und Reduktion von Wahrnehmungskomplexität.

tunnelblick+gipfelglueck(bdk)