„Schau’n ma mal“, Kunstwerke und andere Bilder

Veröffentlicht in BDK-Mitteilungen 4/2003, S.2-4

Unterschwellig ist die aktuelle kunstdidaktische Diskussion von einer Polarisierung der Begriffe Kunst einerseits und Bild andererseits bestimmt. Es wird offenbar befürchtet, dass mit dem Setzen auf den jeweiligen anderen Standpunkt etwas Wichtiges verloren geht oder zu kurz kommt. Die „Bildgegner“ haben Angst vor festen und definierten und damit verbindlichen Lehr- und vor allem Lerninhalten, die dem Kunstbegriff und auch vielen Vorstellungen vom sog. neuen Lernen widersprechen. Die „Bildfreunde“ fürchten um das Fach und die Allgemeinbildung in einer Welt der Bilder.
In letzter Zeit finden sich in Veröffentlichungen zur Kunstpädagogik vermehrt Empfehlungen, die Konzeption Ästhetische Erziehung zugunsten einer künstlerischen Bildung zu verändern. Damit soll zum einen der abnehmenden Bedeutung des Ästhetischen in der aktuellen Kunst Rechnung getragen werden und der Akzent stärker in Richtung Kunst verschoben werden. Diese Ansätze orientieren sich am erweiterten Kunstbegriff Joseph Beuys‘ und an philosophischen Ideen der Lebenskunst. Dabei werden die Begriffe künstlerisch, gestalterisch, bildnerisch und kreativ vergleichsweise synonym verwendet.

Bilder in der Kunst

Doch schauen wir uns einmal Bilder genauer an – ohne aus den Augen zu verlieren, dass sich der „Kunst“unterricht auch mit anderen Gegenständen beschäftigt. Es gibt viele Bilder; ein verschwindend kleiner Teil davon sind Kunstwerke. Grundsätzlich lassen sich Bilder der Kunst von anderen Bildern weder anhand materieller noch anhand sinnlicher Merkmale unterscheiden, auch die Art der Herstellung bietet kein verlässliches Unterscheidungskriterium. Die beiden Bildklassen unterscheiden sich lediglich darin, wie wir mit ihnen jeweils umgehen, wie wir sie verwenden, wie wir sie interpretieren. Kunst ist – so beschrieben – kein Wesensmerkmal der Kunstwerke, Kunst ist eine Form des Gebrauchs, den wir von Gegenständen machen. Dadurch dass sie für einen derartigen Gebrauch hergestellt oder ausgewählt werden, werden sie zu Kunstwerken. Kunst ist lediglich ein Index, eine Markierung, die anzeigt, wie mit dem damit bezeichneten Gegenstand bzw. Phänomen umzugehen ist. Der Index ist nicht Teil des Werkes, sondern des Zusammenhangs, in dem es steht. Wie sich an vielen Beispielen moderner Kunstwerke zeigen lässt, ist diese Zuschreibung weder an die Erscheinung noch an den Inhalt gebunden. Alles kann Kunst werden, wenn ein Künstler es dazu macht und Rezipienten ihm „folgen“. Das Kunstsystem verwaltet dieses Indizes und hält die Gebrauchsanweisungen bereit.
Wir können Bilder aufgrund unseres Erkenntnisinteresses und unserer Interpretationsweise in zwei Kategorien unterteilen:
– Bilder, bei denen es richtige und falsche Interpretationen gibt, z.B. Röntgenbilder, Nachrichtenbilder, Satellitenaufnahmen, Naturstudien, Baupläne, naturwissenschaftliche Zeichnungen, Passfotos, Piktogramme &c. Diese Bilder beziehen sich auf eine objektivierbare, intersubjektive Wirklichkeit. Die Richtigkeit der Interpretation lässt sich durch Vergleiche mit der Welt oder den entsprechenden Codes überprüfen.
– Bilder, bei denen die Interpretationen offener sind, wo es um schön oder hässlich, interessant oder uninteressant, ansprechend oder abstoßend, außergewöhnlich oder gängig geht, z.B. Werke der modernen Kunst, Fototapeten, Landschaftsfotografien, Poster, Bilder in der Werbung &c. Die Grade der Offenheit können dabei sehr unterschiedlich sein.
Selbstverständlich können Bilder der ersten Kategorie so verwendet werden wie die der zweiten, etwa wenn wir uns eine Landkarte nicht zur Orientierung sondern als Dekoration an die Wand hängen, oder Benetton Bilder aus der Sphäre des Journalismus überdimensioniert an Plakatwände klebt.
Generell ist die Bedeutung von Bildern abhängig vom Gebrauchszusammenhang, in dem sie gezeigt und gesehen werden. Kunstwerke werden nach dieser Klassifizierung prinzipiell genauso interpretiert und verwendet wie Poster, Wandtapeten oder Werbefotografien. Allerdings werden Kunstwerke für wichtiger und bedeutungsvoller gehalten. Dies sind kulturelle Zuschreibungen, die nicht für alle sozialen Gruppen gleichermaßen gelten . Diese Zuschreibungen sind ein Ergebnis von Übereinkunft und Macht. Kunstwerke und Kunst werden an maßgebenden kulturellen und medialen Orten besprochen und diskutiert – Schule, Hochschule, Museum, Feuilleton. Sie fordern und bekommen in bestimmten sozialen Gruppen ein entsprechend hohes Maß an Aufmerksamkeit. Kunstwerke sind in der Regel einzigartig und einmalig, dies sind wichtige Voraussetzungen für die Strategien, Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Poster haben dagegen hohe Auflagen und hängen in vielen Zimmern. Sie werden intensiv betrachtet, die Ergebnisse dieser Betrachtungen sind vergleichbar offen wie die von Kunstwerken. Allerdings werden sie – abgesehen vielleicht von Jugendzeitschriften – nicht öffentlich diskutiert.
Beide Bildklassen können ebenso der Dekoration wie der Sinnkonstruktion dienen.

Bilder im Kunstunterricht

Viele Bilder , die im Rahmen des Kunstunterrichts gemacht werden, gehören zur zweiten Kategorie Bilder. Sie ahmen oft Kunstwerke nach. Sie sind Ergebnis individueller Vorstellung und Einbildung, sie zeigen die Welt in den Augen von Kindern und Jugendlichen. Sie haben nicht eine einzig richtige Interpretation, die sich mit objektiven bzw. intersubjektiven Testverfahren überprüfen ließe, sondern lassen mehr oder weniger viele zu.
Auch wenn Bilder im Kunstunterricht individuell, einzigartig, einmalig und möglicherweise von einer persönlichen Betroffenheit her gemacht werden und damit vielen aktuellen und früheren Kunstwerken ähneln, sind sie ebenso wenig Kunstwerke wie Poster, Fototapeten oder die Ergebnisse kunsttherapeutischer Sitzungen. Die handwerkliche individuelle Herstellung, ihre Einmaligkeit oder die mögliche Ähnlichkeit mit Bildern der Kunst sind kein hinreichender Grund, sie als Kunstwerke zu rezipieren oder sie in deren Nähe zu rücken.
Bilder, die im Kunstunterricht entstehen, sind das Ergebnis von Übungsaufgaben und zunächst einmal „Testbilder“. Sie sind Mittel zum Lernen und zum Beurteilen von Lernfortschritten. Sie werden vor allem unter dem Gesichtspunkt des Gelingens betrachtet, also mit den Kriterien besser oder schlechter. Sie werden nur äußerst selten von ihrem Gehalt her interpretiert. Allerdings können sie nach dem Unterricht eine Karriere machen, eventuell irgendwo in einem Zimmer aufgehängt werden, und zu Bildern werden, mit denen ebenso umgegangen wird wie mit Postern oder Kunstwerken.
Schülerinnen und Schüler im Kunstunterricht sind noch am ehesten mit Künstlern des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu vergleichen, Lehrerinnen und Lehrer mit den Auftraggebern, etwa einem Bischof. Der Bischof erteilt den Auftrag, entscheidet über das Bildprogramm und legt den Zeitplan fest, in dem die Arbeit zu erledigen ist. Abhängig von der Person des Auftraggebers, vom Ansehen des Künstlers und möglicher sonstiger Umstände kann dem Künstler eine mehr oder weniger große Entscheidungsfreiheit zugebilligt werden. Künstlerische Freiheit im modernen Sinne hat er nicht. Nach der Fertigstellung nimmt der Bischof die Arbeit ab, bewertet und entlohnt sie. Die Analogie gilt für alle Arbeiten, die im Rahmen des schulischen Kunstunterrichts gestellt werden, die Freiheitsgrade können variieren. Im Kunstunterricht geht es im Gegensatz zu seinem Namen nicht um Kunst, sondern um die ästhetisch erzeugte Wirklichkeit.
Im Kunstunterricht werden gestalterische oder bildnerische Probleme gestellt und behandelt. Es geht darum, Bilder zu erfinden, zu gestalten, zu verstehen, es geht auch darum, genau hinzuschauen und differenziert wahrzunehmen. Damit müssen sich auch Künstler beschäftigen; die meisten Probleme, die sich ihnen stellen, sind wie bei den Schülerinnen und Schülern Probleme, die den Entwurf, die Gestaltung oder die Formulierung betreffen.
Nachdem wir gesehen haben, dass der Unterschied zwischen Bildern und Kunst in der Markierung begründet liegt und nicht in der Beschaffenheit oder der Machart, kann der Begriff künstlerisch nicht mehr wie gewohnt synonym für gestalterisch oder bildnerisch verwendet werden. Künstlerische Fragestellungen und Probleme sind Fragestellungen und Probleme hinsichtlich der Kunst. Um künstlerische Probleme behandeln zu können, ist ein entsprechendes Wissen über die Entwicklungen der aktuellen Kunst und das Verständnis des Kunstbegriffs unerlässlich. Beides kann in der Regel in der Schule nicht vorausgesetzt werden. In den praktischen Aufgaben, die im Kunstunterricht gestellt und bearbeitet werden, werden also keine künstlerischen, sondern gestalterische Probleme behandelt. Ebenso sind die meisten der sogenannten Kunstbetrachtungen nichts anderes als Bildbetrachtungen.

Kunst im Kunstunterricht

Gunter Otto hat 1974 seine Didaktik der Ästhetischen Erziehung veröffentlicht, u.a. ging es ihm dabei darum, die Unterrichtsgegenstände, die im Zuge der Visuellen Kommunikation gefordert wurden, mit den traditionellen Inhalten des Faches vor allem der Kunst zu versöhnen, sie unter einen gemeinsamen Begriff und ein gemeinsames Konzept zu bringen . Der gemeinsame Nenner war das Ästhetische und sein später formuliertes Konzept der Ästhetischen Rationalität. Diese Integration war seine große Leistung. Wie selbstverständlich hingen für ihn Kunst und Ästhetik zusammen, obwohl ca. 60 Jahre vorher Marcel Duchamp mit seinen Readymades schon gezeigt hatte, dass das, was einen Gegenstand zur Kunst macht, eben nicht das Ästhetische an ihm ist, sondern der Gebrauch, den wir von ihm machen.
Gunter Otto konnte in sein Unterrichtskonzept der Ästhetischen Erziehung ohne Probleme die Kunst mit einbeziehen, denn Kunst galt als ästhetisches Phänomen. Dies gilt heute so nicht mehr. Das, was ein Kunstwerk zum Kunstwerk macht, ist wie gesagt nicht seine Erscheinung, sondern der Index. Dies wissen wir spätestens seit der Entwicklung der Kunst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Wenn Kunst grundsätzlich nicht mehr ästhetisch ist, was gibt es dann an ihr als Kunst noch zu lernen? Reicht es, die Mechanismen des Index und des Kunstsystems zu vermitteln?
Eine der Aufgaben der Kunst ist es, einen anderen Standpunkt gegenüber der Welt zu entwickeln und zu präsentieren. Von der Kunst aus lässt sich die Welt verstehen, kritisieren und auch neu entwerfen. Die Kunst als ein Möglichkeitsraum sollte für Kinder und Jugendliche erschlossen werden. Es ist schwierig aber nicht unmöglich, den Index Kunst zu verstehen. Kinder und Jugendliche sollten möglichst viele verschiedene Kunstwerke kennen lernen und so Zugang zur Kunst bekommen.
Allerdings sollte man auch aus Respekt vor der Kunst und, um Missverständnisse zu vermeiden, darauf verzichten, das, was an praktischer Arbeit im Unterricht entsteht, mit dem Prädikat künstlerisch zu versehen, oder gar den Kunstunterricht als künstlerische Handlungsform zu betrachten.

Literatur

  • Buschkühle, Carl-Peter (Hg.): Perspektiven künstlerischer Bildung : Texte zum Symposium Künstlerische Bildung und die Schule der Zukunft, Köln: Salon-Verlag, 2003
  • Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen : eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984
  • Goffman, Erving: Rahmenanalyse : ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980
  • Parsons, Michael: How we understand art : a cognitive developmental account of aesthetic experience, Cambridge (u.a.) 1989
  • Puritz, Ulrich (2000) : Sushi-Syndrom: LKW als PKW oder: LebensKunstWerke als ProjektKunstWerke in: Blohm, Manfred (Hg.): Leerstellen : Perspektiven für ästhetisches Lernen in Schule und Hochschule, Köln: Salon-Verlag, 2000
  • Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildhandeln : interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungen, Magdeburg: Scriptum-Verl. 2001
  • Sachs-Hombach, Klaus: Begriff und Funktion bildhafter Darstellungen in: Huber, Hans Dieter, Lockemann Bettina, Scheibel, Michael (Hg.). Bild / Medien / Wissen, München: kopaed, 2002, S.9 – 46
    erschienen in: BDK-Mitteilungen 2003/4