Thomas Ribi in der NZZ

In Berlin wird ein Gedicht übermalt, das Studierenden nicht genehm ist, an amerikanischen Universitäten stehen Ovids Werke auf dem Index, Museen hängen Bilder ab, die als anstössig gelten. Geht die Freiheit der Kunst verloren? Ja, aber das ist nicht einmal das Schlimmste.
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Dass er mit einigem Bemühen möglicherweise sexistisch verstanden werden könnte, genügte vollauf. Was soll man darauf schon erwidern? Wer laut genug behauptet, bekommt am Ende Recht. Und die grösste Anmassung der selbsternannten Tugendschützer besteht darin, jedem Einwand von vornherein die Legitimation abzusprechen. Wer den potenziellen Sexismus hinter ein paar harmlosen Gedichtzeilen nicht spürt, ist entweder ein Mann und damit ohnehin nicht satisfaktionsfähig. Oder hat, vielleicht noch schlimmer, keine Empfindung für das, was man mit dem modischen Kampfbegriff als strukturelle Gewalt bezeichnet. Gegen Agitation hat Vernunft einen schweren Stand. «Weg mit allem, was stört», heisst die Devise der politisch korrekten Bilderstürmer. Was einmal gedichtet wurde, lässt sich zwar nicht mehr aus der Welt schaffen. Aber wenigstens aus den Augen.